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PFÜTZE UND OZEAN

■ Der Theaterlehrer Anatolij Wassiljew im Cafe Einstein

Festspielleiter Ulrich Eckart begrüßt seinen Gast und stellt das Programm vor. Er vergißt das ein oder andere und hat offensichtlich keine Ahnung. Betont, daß Wassiljews Moskauer „Schule der dramatischen Kunst“ keine Schule sei. Wassiljew spricht dagegen ständig von seinen Schülern. Neben dem Mann mit der Ausstrahlung eines korrekten Beamten sitzt Wassiljew. Langes fettiges Haar, Bart, ziemlich zerzaust. Er streicht sich sein Gesicht glatt, immer wieder. Eckart wendet sich ab, dreht den Kopf weg, als sei Wassiljew einer, der schlecht riecht. Er hört nicht zu. Irgendwann zieht er seine Taschenuhr am silbernen Kettchen aus der Hose, hält sie Wassiljew unter die Nase, er müsse doch noch proben, also in zehn Minuten sie Schluß. Wassiljew ist nicht in Eile.

„Bei uns fängt man mit der Regie an, wenn man älter ist als 20. Mit der Schauspielerei sollte man eigentlich auch erst später anfangen. Irgendwie ist das bei uns alles verrutscht. Die Kindheit, nein, die Kindheit ist noch die Kindheit. Aber die Jugend geht so von 20 bis 22, erwachsen wird man mit 45. Ich bin also kein alter Mann (Wassiljew ist 46), sondern ein Mann in den besten Jahren.

Das Nachdenken fängt um die 30 an. So war es auch bei mir. Erst studierte ich an der Universität, dann mußte ich zur Armee, war auf dem Stillen Ozean bei der Flotte, und dann fing ich irgendwann an zu verstehen, was vor sich geht. Obwohl ich mich schon mit 5 Jahren mit dem Theater beschäftigte, dann mit 9, mit 12, mit 14 usw. Mein erstes Stück habe ich mit 20 inszeniert.

Vorher war ich Chemiker. Die organische Chemie ist einer der schönsten Zweige der Wissenschaft. Diese auf große Blätter geschriebenen riesigen bunten Formeln der chemischen Verbindungen haben mich fasziniert. Die organische Chemie, das ist eine Fantasie über die innere Struktur der Dinge. Daher rührt meine Leidenschaft zur Analyse der Struktur eines Gegenstandes.

Ich packte meine Koffer und ging zu einem chemischen Kombinat weit weg in Asien. Weil ich keine Papiere hatte, mußte ich als Laborant anfangen, zwei Monate später war ich Chef. Dann mußte ich zur Ernte, das mußten damals alle Wissenschaftler und weil ich der erfolgreichste Wissenschaftler war, mußte ich besonders oft Getreide mähen. Abends saß ich unter einem Baum und las Tolstoj, dann hat mich eine Schlange gebissen, und ich wußte, es ist Zeit zu gehen. Also packte ich wieder meine Koffer, fuhr in die Stadt, dort tauchten Ratten auf. Dann mußte ich zur Armee, fuhr zu meiner Mama, um ihr auf Wiedersehen zu sagen, ich sagte ihr auf Wiedersehen und nach einer langen Reise fand ich mich in Moskau wieder und machte Theater.

Die Arbeit am Theater, das ist wie auf einem Schiff. Wenn es im Hafen liegt, schwankt es hin und her, man weiß nicht, wer wohnt wo und wer wohnt mit wem, wer ist der Kapitän und wer Matrose. Das ändert sich, sobald das Schiff ablegt, dann ist jeder an seinem Platz. Wenn das Theater in Moskau ist, schwankt es zwischen Pfütze und Ozean, deshalb reise ich so gerne (Wassiljew war mit seiner Truppe in diesem Jahr in München, Stuttgart und Avignon zu Gast).

(Zur Perestroika): Alles was sich jetzt tut, hat viel früher angefangen. Für die, die dageblieben sind, und für die, die weggingen, war es stete, angestrengte Arbeit. Ohne über Politik zu reden, haben sie versucht, die Wahrheit wieder herzustellen ... Wenn man über das jetzige russische Theater redet, dann gibt es das eigentlich noch gar nicht. Es ist das Theater, das es vorher gab, als es sich mit Politik befassen mußte, mit Politik im Zerrspiegel. Jetzt hat es die Freiheit, das nicht mehr tun zu müssen, das können jetzt die Journalisten machen. Das jetzige Theater hat die ungeheure Schwierigkeit, daß es sich jetzt mit seinem eigenen Gegenstand, mit der Kunst befassen kann und wir wissen gar nicht, wie das geht.

(Zur Rockoper „Parallelkult“:) Rock ist nicht Kultur, sondern ein Zustand des Menschen. Wobei sowjetischer Rock etwas ganz anderes ist als die Nachahmung des westlichen Rock. Das ist die Musik aus den Kellern der siebziger Jahre, diese widerliche Musik, die gleichzeitig sehr schön ist, weil sie ausdrückt, was junge Leute für die Stadt, in der sie leben, für Mama und Papa und die Freunde empfinden.

Die Vereinigung von Theater und Rock in der Sowjetunion ist dabei ungeheuer schwer. Es steht nicht gut ums Theater, es steht nicht gut um die Rockmusik, nun stellen Sie sich eine Verbindung von beidem vor. Das Stück erzählt die traurige Geschichte eines Rockmusikers, der nicht mehr an den Rock glaubt. Aufgrund seines Alters und weil der Rock kommerziell geworden ist. Es gibt eine professionelle Rockgruppe und eine zweite, die aus Schauspielern besteht. Die haben drei Jahre geprobt, dieses Leben in den Kellern durchlebt, auf den Instrumenten geübt, morgens abends nachts. Wenn die Schauspieler jetzt ihren Text sprechen, ist es, als spreche ein Musiker. Es ist keine Nachahmung, sondern wirklich. Im dramatischen Sinne wahr“.

chp

Die „Schule der Dramatischen Kunst“ zeigt Sa, So um 19 Uhr in der Theatermanufaktur Viktor Slawkins „Cerceau„;

am Dienstag, 27.9., um 19 Uhr im Metropol Wassiljew Juchananows „Parallelkult“, Theater, Musiktheater. Rock -Szenen aus dem Rock-Theater „Der Voyeur„;

am Mittwoch, 28.9., um 19 Uhr in der Theatermanufaktur Luigi Pirandello „Sechs Personen suchen einen Autor“.

Immer unter der Leitung von Anatolij Wassiljew.

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