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Das war ihr Leben: Die 60er Jahre überdauerten die Jahre von 1960 bis 1969 nicht / Die Überlebenden in den Medien sind dagegen / Zeitzeugen geben Zeichen

Chruschtschow trommelt 1960 in der UNO. Der Pauken-Neuss bringt seine Kellerkinder in die Berliner Kinos. John Lennon gründet die Beatles. Mutters Tochter promeniert mit dem Itsy -Bitsy-Teenie-Bikini am Ufer des Glienicker Sees. Ein Jahr, bevor weiße Bojen gesetzt werden und ein festbetoniertes Schild auf eine Veränderung hinweist: Achtung, in 120 Metern endet West-Berlin.

In der „Dachluke“ spielen die „Gloomys“. Die rockende „Szene“ starrt nach Hamburg wie die Schlange auf das Kaninchen. Hier, im „Star-Club“, wird auf der Bühne noch fremdsprachig gefachsimpelt. Pilzkopf-Fieber here and there and everywhere. Ausscheidungen auch bei uns. „Wir suchen die deutschen Beatles“ ist das Motto des Kapellenwettbewerbs, der am Sonntag, dem 6.September 1964 im hansestädtischen „Star-Club“ über die Bühne geht. Verkleidet mit Glocke und Fliege werden „The Lords“ zum Sieger gekrönt. „Ich bin ein Börrliner“ mal fünf. Die Schlagzeilen sind klar. Berlin-West hat den Anschluß gefunden. Die Flasche Fusel kostet noch 2,65 Mark.

Auch das Jahr '65 ist nicht ohne. Daß in keiner anderen Stadt so intensiv und ausdauernd aus dem Fenster geguckt wird wie in Berlin, ist unbestritten. Doch als Ende des Jahres einige Pennäler in das Fenster des Schlagersängers Drafi Deutscher starren und den Star ohne Textil gesehn haben wollen, wird Drafi, der am 1.November Platz eins der Hitparade erreicht, zum Fenstersturz freigegeben. Springers 'Bild‘ schubst mit. Drafi muß gehen. 'Bild‘ darf bleiben. Verkehrte Welt. „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht.“ Das sitzt jahrlang.

Im gleichen Jahr: 26 Starfighter hinterlassen bei der Landung Löcher, Baugruben gleich. „It's not unusual“, röhrt Tom Jones. Die Waldbühne wird nach dem Gig der Rolling Stones verwüstet wie ehedem der Sportpalast.

Es wird nervös in Westberlin. Ami go home. Das Ufer, das den Namen des Mannes trägt, der Drafi die Zeilen für seinen Ohrwurm geliefert hat, liegt noch im Schlummer. Vom Paul -Lincke-Ufer redet noch keiner. Wir lernen Vietnam buchstabieren. Paul Lincke und die Berliner Operette? Wen juckt's? In der City werden die agitatorischen high-lights gezündet. In Kreuzberg geht's immer an der Wand lang. Bis früh um fünfe, süße Maus. Das macht die Berliner Luft, Luft, Luft. Glühwürmchen, Glühwürmchen, schimmre, schimmre! Führe uns auf rechten Wegen, führe uns dem Glück entgegen... Ho, Ho, Ho Chi Minh. Die Rebellen um Rabehl und Rudi läuten ein, was als APO hitzig beginnt. Die Bildzeitung brennt. Auf den verkohlten Resten des holzhaltigen Papiers glimmt das Wort der vielbeschworenen schweigenden Mehrheit: „Gammler aller Altersgruppen, von denen man die Mehrzahl besser als Penner bezeichnen sollte, spielen eine Art Einkriegezeck mit der Polizei. Abgeführt! Stolz trägt dieser Gammler das Abzeichen der links-radikalen 'Ostermarschierer‘. Er ist nicht der einzige.“ Eine Bild-Unterschrift.

1967 geht das Foto des 'Wahrheit'-Fotografen Jürgen Henschel um die Welt. Benno Ohnesorg ist tot. Der Schütze lebt. Drei Jahre später wird Andreas Baader aus dem Knast freigeschossen. Allende wird in Chile Präsident, und die RAF geistert nicht nur durch die Schlagzeilen. Wer nicht auf die Macht vertraut, die aus den Gewehrläufen kommt, geht zum Teach In, Sit In, Smoke In.

Randi Warwel in 'Stadtfront Berlin West Berlin‘

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