Wie mich das Rufen reut

■ Zur Aufführung von Theodor W.Adornos Kompositionen und einem Symposion am vorletzten Wochenende in Frankfurt

Christiane Peitz

Ein Mann ist nicht zu hören. Adorno hat für Sopranstimme, Frauenchor, Knaben, Streichquartett und Orchester komponiert. Verse von Trakl, George, Däubler, französische Kinderlieder, Schumanns Klavierstücke für Kinder in Orchesterfassung. Nur eines der Propagandagedichte, eine Brecht-Parodie, karikiert den herrischen Ton.

Der Frauenchor singt von gestörter Waldesruh. Zweimal am Ende der Vers „Wie mich das Rufen reut„; beim zweitenmal bricht die Melodie nach „Rufen“ ab, die Pause vor dem letzten Wort macht die Verletzung hörbar. „Du sollst nicht traurig sein“ - es ist herzzerreißend. Diese Zeile ist besonders deutlich gesetzt, die anderen Wörter, die man deutlich versteht, lauten: „einsam“, „still“, „leise“. Alle Gedichte, die Adorno vertont hat, klagen um Verlorenes, um verwehrtes Glück. Wie Schubert, wie Adornos Lehrer Berg und Schönberg.

Aber die Musik ist keineswegs verhalten. Oft hat sie etwas geradezu Überschwengliches, und nimmt es im nächsten Moment wieder zurück. Sie weiß um ihr Übermaß. Sie ist zärtlich und brutal.

Ein Gedicht von Else Lasker-Schüler, eine Ode an zwei Kinderhände. Die letzte Zeile hat vier Vortragsbezeichnungen: viel langsamer, zart espressivo, zart mit Ton, mit viel Pedal, dazu sehr schmachtend die Worte „wie ich sie liebe deine...“. Dann spielt das Klavier Sfortissimo, ohne Pedal, die Stimme soll jetzt flott sein, aber subito: “...Bubenhände“. Vier Silben, vier Sechzehntel, kurzer Prozeß. Ein Seufzer zum Schluß, „die zwei“ als Melisma und das Klavier wieder in dreifachem piano. Das Ganze dauert vielleicht zehn Sekunden; man überhört es leicht.

Die Sechs kurzen Orchesterstücke op.4 dauern ungefähr sieben Minuten. Dafür muß sich ein komplettes Orchester auf die Bühne setzen; samt Stühlerücken, Notenverteilen, Instrumentestimmen und Dirigentenauftritt dauern die Vorbereitungen länger als das Werk selbst. Mit den ersten Takten erheben nicht die Instrumente ihre Stimmen, es ist, als führe umgekehrt die Musik ins Orchester und treibe es um. Im Mittelteil wagen sich ein paar Einzelstimmen vor, die aber kurz darauf im Hauptzeitmaß und auskomponierten Crescendo von der Menge wieder übertönt werden. Zwar ist Adorno 12-Ton-Komponist, aber bei ihm klingt die Dodekaphonie oft mehr nach Debussy als nach Schönberg. Es wimmelt von schönen Stellen, jedoch sie zucken nur, fahren kurz auf. Sie haben keine Chance.

Das letzte der Orchesterstücke endet in dreifachem piano, die Violinen flageolett, die Flöten irgendwo ganz oben, vermutlich kann kein Orchester das sauber spielen. Ein fis -moll-Akkord - eine Konsonanz als Mißklang. Gary Bertini steht auf den Zehen und hebt über seinem Kopf die Fingerspitzen zueinander, aber sie berühren sich nicht. Ich kann mir keinen besseren Dirigenten für Adorno vorstellen.

Adorno hat in den Zwanziger Jahren komponiert und während der Nazi-Zeit. Hauptsächlich von '38 bis '45, im Exil. Die Klavierlieder aus dieser Zeit brechen ab oder verstummen in zwei- bis vierfachem piano, das Klavier spielt dabei oft extreme Lagen oder es läßt die Sängerin ganz allein. Oder sie muß - zum Wort „aufschaun“ in einem Trakl-Lied - das hohe h pianissimo singen, was technisch kaum machbar sein dürfte. In jedem Fall gibt es einen fahlen, körperlosen Ton; die Sängerin in der Alten Oper, Hildegard Hartwig, hat es leider mit Vibrato probiert.

Man sollte“, schreibt Adorno selbst Jahrzehnte später, „auch in der Musik einmal darüber nachdenken, warum die Menschen, sobald sie wirklich ins Offene kommen, das Gefühl produzieren: da muß doch wieder Ordnung her -, anstatt aufzuatmen.“ Seine eigene Musik atmet auf, aber ihr bleibt der Ton im Halse stecken.

Von seinem geplanten Singspiel nach Mark Twains „Tom Sawyer“, zu dem Adorno auch das Libretto schrieb, existieren zwei Lieder. Weiter kam er nicht, Walter Benjamin riet ab, das sei zu idyllisch. Dabei ist Hucks Auftrittslied mit seiner prallen Komik - „und der Hund mit dem Mund guckt zum Kellerloch hinaus“ - wohl das aggressivste Lied überhaupt: der Gesang eines Anarchisten. Und Tom Sawyers Totenlied für einen Kater das traurigste. Ein Tölzer Knabe muß gegen ein komplettes Orchester ansingen, die Tuba rotzt, brutal übertönt der Apparat die Kinderstimme. Erst bei der Schlußzeile hält er ein: „Peter, ach Peter, ich selber habe dich hingemacht.“ Schade, daß Adorno auf Benjamin gehört hat.

Nach '45 hat er keine Note mehr komponiert. Der einzige, der sich an seinen berühmten, immer falsch zitierten Satz gehalten hat. Heinz-Klaus Metzger (mit Rainer Riehn Herausgeber der Kompositionen) stellt ihn gegen die Borniertheit seiner Kollegen immer wieder richtig. Für ihn ist die Zeit nach '45 Adornos „späte“ Kompositionsphase: „Wenn er '69 nicht gestorben wäre, hätte er noch länger nicht komponiert.“

'Rundschau'-Jungheinrich aber glaubt an ein Leben nach dem Tode und prägt die elegante Wendung vom Komponisten Adorno, der im Philosophen weitergelebt habe. Mit Verweis auf Dieter Schnebels Aufsatz über die Musikalität von Adornos Texten. Mir wäre es lieber gewesen, Schnebel selbst hätte referiert.

Metzger verschweigt übrigens nicht Adornos Wehmut über seinen Verzicht. Kurz vor seinem Tod schickte er dem Freund die Orchesterstücke mit der Widmung: „Ob nicht, lieber Heinz, doch etwas hätte werden können aus seinem ihm herzlich verbundenen Adorno?“

Dieses „etwas“ sollte Gegenstand des Symposions sein, um nichts ging es weniger. Die Musikwissenschaftler auf dem Podium, allen voran Albrecht Riethmüller und Giselher Schubert (letzterer leitet die Hindemith-Gesamtausgabe), kühlten einmal mehr ihren Mut am Meister. Nicht nur nahmen sie seine Musik nicht weiter ernst, auch sonst wurde ihm fleißig am Zeug geflickt. Wollte man Schuberts Ausführungen Glauben schenken, konnte der Mann nicht mal richtig Noten lesen. Und Riethmüller verglich Nietzsche, der Wagners Musik für krank erklärte, mit Adorno, der Strawinsky angeblich für entartet hielt. (Das Wort fiel tatsächlich).

Bei der anschließenden Diskussion empörte sich keiner. Am nächsten Tag konterte Metzger zwar doch noch mit Adorno -Zitaten, aber ansonsten wirkte der unermüdliche Kämpfer für eine Kritische Musiktheorie merkwürdig müde und resigniert. Vielleicht liegt das an seinen schlechten Erfahrungen mit dem Frankfurter Opern-Kulturbetrieb. Mich hat es erschreckt.

Es war dann ausgerechnet ein Nichtmusiker, der Soziologe Ulrich Oevermann, der darauf beharrte, daß Adornos Schriften zur Musik keineswegs peripherer, sondern „integraler Bestandteil der Sozialforschung“ seien, daß es in Adornos Musikanalysen um eben diesen Rest der Welt gehe, den die Kunstbetrachtungen sonst fein säuberlich auszusparen pflegen. Und eben das macht sie als Musikkritik so präzise: „Die Philosophie der Neuen Musik“ ist ein Exkurs zur „Dialektik der Aufklärung“.

So wie Oevermann sein eigenes Fach argwöhnisch beäugt „was hat es nach Adorno in Frankfurt denn gegeben?“ - und auf die Feier Adornos zugunsten des „Programms Adorno“ gerne verzichten will, wünscht man sich Einsicht von seinen Kollegen in Sachen Musik. Warum zu einer Tagung über Adorno Referenten geladen werden, die unter dem Deckmäntelchen der Wissenschaft in wohlgesetzten, oft schwer verständlichen Worten ihr Ressentiment, wenn nicht ihren Haß auf den wichtigsten Musikphilosophen dieses Jahrhunderts öffentlich ausbreiten, ist mir ein Rätsel. Es ist der Haß derer, die beides nicht können: über Musik sprechen und sie komponieren. Deshalb beschimpfen sie ihn wechselweise als elitär oder als Dilettanten.

Nur Metzger hielt der Zunft einen Spiegel vor, indem er ihre Rituale ad absurdum führte. Zum Stichwort Quellenlage etwa erzählt er, wie sich nach vergeblicher Suche der Reinschrift der Orchesterstücke und nach mühsamem Abgleichen der vorhandenen Stimmen mit der seinerzeit bei Ricordi erschienenen Partitur das Manuskript in Rolf Tiedemanns Bücherschrank fand. Und zwar nach Erscheinen der Noten bei Text und Kritik.

Dennoch wirkten Metzger und der Komponist Spahlinger bestenfalls wie Alibi-Adorniten. Von Adornos Musik war, wie gesagt, nicht die Rede. Trotz Walter Levines (La-Salle -Quartett) solider Analyse der Streichquartettstücke, trotz Siegfried Mausers sich besonders klug gebärdendem Versuch über die Klavierlieder.

Zum Glück gab es das Konzert, das die über zehn Stunden währenden Reden der Herren Wissenschaftler Lügen strafte. Und im November soll ein Mitschnitt bei Wergo als CD erscheinen. Kulturindustrie? Ich glaube, Adorno hätte sich gefreut.