: Stadt im Abseits
Zur Demonstration gegen IWF und Weltbank ■ G A S T K O M M E N T A R
In welcher europäischen Metropole kann man heute die Mobilisierung von mehreren zehntausend Menschen zu so komplexen Fragen wie der Umverteilung der Schulden beobachten? Berlin bleibt eine Stadt für sich, in geographischer ebenso wie in symbolischer Hinsicht, im Abseits des westeuropäischen Zeitgeistes. Etwa alle zwanzig Jahre definiert Berlin seine Beziehungen zur Welt. 1948 formulierte die Stadt ihre klare Zugehörigkeit zum Westen gegenüber dem sowjetischen Block. 1968 kandidierte Berlin erfolgreich für den Status einer Metropole neuer, antiautoritärer und emanzipatorischer Ideen an der Seite von Paris, Prag und Berkeley. 1988 geht hier - praktisch dem einzigen Ort im Westen - ein Teil der Stämme, die die Stadt bevölkern, von Punks bis Lesben über die Filialen revolutionärer Bewegungen, mit der Forderung auf die Straße, die Welt dürfe nicht aus den Fugen geraten.
Diese Vereinsamung Berlins hat etwas Pathetisches, so, als sei es ein starkes Anliegen, seine Andersartigkeit herauszustellen, um nicht vom Rest der Welt vergessen zu werden. Europa, das all seine Anstrengungen darauf richtet, sein Wohlbefinden zu organisieren und sich gegen die stärksten und ehrgeizigsten Attacken aus dem Fernen Osten zu verteidigen, kann es sich nicht leisten - falls es nicht selbstmörderisch sein will -, seinem schlechten Gewissen freien Lauf zu lassen. Doch dieses Europa ist zugleich die einzige Macht der Welt, die in der Lage ist, ihre Prinzipien der Humanität, der Solidarität und der menschlichen Würde nicht zu vergessen. Die Parolen, die am Sonntag auf den Straßen zum ICC tönten, waren sicherlich übertrieben, denn der IWF und die Weltbank sind nicht mörderischer als all jene Mächte, die über das Schicksal der Menschen bestimmt haben. Auch der Wucherer trägt zum großen Teil die Züge der Menschlichkeit - siehe den „Kaufmann von Venedig“. Aber es ist manchmal notwendig, nachdrücklich daran zu erinnern. Wenn das der Sinn des Berliner Aufschreis von 1988 ist, kann man nur sagen: Bravo, Berlin! Luc Rosenzweig
Bonner Korrespondent der Tageszeitung 'Le Monde
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen