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Verlust der Männlichkeit

■ Am 29. September 1938 einigten sich Deutschland, England, Frankreich und Italien darauf, daß die auf der Konferenz nicht vertretene CSR ein Fünftel ihres Territoriums und ein Viertel ihrer Bevölkerung an Hitlerdeutschland abzutreten habe. Das von Georges Bataille gegründete College de Sociologie gab zum Münchner Abkommen die folgende Erklärung ab.

Georges Bataille, Roger Caillois, Michel Leiris

Das College de Sociologie betrachtet die jüngste internationale Krise in mehrfacher Hinsicht als eine wesentliche Erfahrung. Das College hat weder die Möglichkeit, noch die Muße, alle Facetten der Frage zu untersuchen. Es beansprucht auch keinerlei Kompetenz in der Deutung der diplomatischen Entwicklung, die zur Erhaltung des Friedens geführt hat, weniger noch vermöchte es, das Verhältnis von Voraussagbarem und Unerwartetem, Kompromiß und Erpressung darin abzuwägen, allenfalls das von Inszenierung und Ehrlichkeit. Das College de Sociologie weiß: solche Interpretationen sind ebenso einfach wie müßig. Es verzichtet darauf und hofft, daß es ihm andere, deren Kompetenz die seine nicht übersteigt, gleichtun werden. Soweit der erste Punkt.

Das College de Sociologie sieht seine Rolle in einer nüchternen - Betrachtung der kollektiven psychischen Reaktionen auf den unmittelbar drohenden Krieg. Sie sind durch das Ende der Bedrohung in eine nur als Beschönigung zu bezeichnende Vergessenheit gefallen oder haben sich in schmeichelhafte, fast tröstliche Erinnerungen verwandelt. Die der Gefahr am fassungslosesten gegenüberstanden, halten sich heute für Helden. Schon schenkt die Öffentlichkeit der Legende Glauben, sie hätte Kaltblütigkeit, Würde und Entschiedenheit gezeigt: Hatte ihr der Ministerpräsident nicht eilfertig dafür gedankt?1 Schon muß man daran erinnern, daß diese viel zu schönen Worte Gefühle benennen sollen, die in Wahrheit Bestürzung, Resignation und Angst heißen. Gegeben wurde ein stilles und starres, dem Ereignis traurig erlegenes Schauspiel der Verwirrung. Es war die schon immer verängstigte und seiner Unterlegenheit bewußte Haltung eines Volks, das sich weigert, den Krieg als ein Mittel seiner Politik anzusehen. Und das angesichts einer Nation, die ihre Politik allein darauf gründet. Soweit der zweite Punkt.

Zu dieser Moral der Panik gesellt sich die Absurdität der politischen Positionen. Schon zu Beginn war die Situation paradox: Die Diktaturen beriefen sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker2 und die Demokratien auf das Prinzip der natürlichen Grenzen und der Lebensinteressen der Nationen. In der Folge verschärften sich diese Paradoxien bis ins Extrem. Ausgerechnet den Nachfahren und Erben jenes Joseph Chamberlain3, der offen die Weltherrschaft Englands angestrebt und sein Imperium aufgebaut hatte, sah man bei Herrn Hitler unterwürfig bereit, jedweder Regelung zuzustimmen, wenn sie nur friedlich ist.

In einer kommunistischen Tageszeitung konnte man einen Vergleich zwischen diesem „Botschafter des Friedens“ und Lord Kitchener lesen, der ganz und gar zugunsten des letzteren ausfiel. Man hätte es nie für möglich gehalten, wenn es da nicht schwarz auf weiß stünde: Kommunisten beglückwünschen den Mann des Transvaal-Kriegs, den Mann der systematischen Zerstörung und der Konzentrationslager für die Zivilbevölkerung dafür, daß er sein Land um ein großes Territorium bereichert hat (und die Finanziers der Metropole um Gold- und Diamantenminen, aber davon sprechen sie hier nicht).

Auch das Verhalten der amerikanischen Öffentlichkeit verdient Beachtung. Von jenseits des Ozeans, aus sicherer Distanz, setzt sie den Maßstab für jene Bewußtlosigkeit, Heuchelei und eine gewisse platonische Donquichotterie, die die Demokratien immer mehr zu charakterisieren scheinen. Soweit, vor der conclusio, der dritte und letzte Punkt.

Das College de Sociologie ist keine politische Organisation. Seine Mitglieder haben unterschiedliche Meinungen. Es sieht sich auch nicht veranlaßt, die besonderen Interessen Frankreichs in dieser Sache zu vertreten. Seine Rolle ist ausschließlich, die Lehren aus den Ereignissen zu ziehen, die es ziehen muß, und das, solange noch Zeit ist; das heißt bevor alle Welt vollends überzeugt ist, die Prüfung tatsächlich mit Kaltblütigkeit, Würde und Entschiedenheit durchstanden zu haben. Das College de Sociologie betrachtet das Fehlen einer starken Reaktion auf den Krieg als ein Zeichen der Entmännlichung des Menschen. Es zögert nicht, den Grund dafür in der Lockerung der aktuellen gesellschaftlichen Bindungen zu sehen, in ihrer Quasi-Inexistenz, die in der Entwicklung des bürgerlichen Individualismus begründet ist und deren Konsequenzen es unnachsichtig anklagt: Menschen, so allein, so schicksalslos, daß sie der Möglichkeit des Todes ganz und gar hilflos preisgegeben sind, Menschen, die

-da sie keine tieferen Gründe zu kämpfen haben - vor jedem Kampf feige zurückscheuen, intelligente Schafe, die sich mit dem Schlachthaus abgefunden haben.

Das College de Sociologie versteht sich im wesentlichen als eine Forschungs- und Studiengruppe. Aber es hatte sich bei seiner Gründung vorbehalten, wenn möglich auch anderes zu sein: ein Kraftzentrum. Durch die jüngsten Ereignisse fühlt es sich gehalten, vielleicht gezwungen, diesen Aspekt seines Selbstverständnisses zu betonen. Deshalb ergreift es mit dieser öffentlichen Erklärung die Initiative. Deshalb beschwört es alle, denen die Angst als einzigen Ausweg die Schaffung vitaler Bindungen zwischen den Menschen aufgezeigt hat, sich ihm anzuschließen: mit dem einzigen Ziel, die absolute Lüge der derzeitigen politischen Formen bewußt zu machen und eine kollektive Existenzform wiederherzustellen, die keinerlei geographische oder soziale Beschränkung anerkennt und die es erlaubt, der Todesgefahr mit ein bißchen Haltung zu begegnen.

Paris, den 7. Oktober 1938.

1 Am 28. September, vor seinem Flug nach München verlas Daladier folgende Erklärung im Radio: „Vor meiner Abreise möchte ich mich an das französische Volk wenden, um meinen Dank für seine mutige und würdevolle Haltung auszusprechen. Besonders möchte ich jenen Franzosen, die zu den Fahnen gerufen wurden für ihre Kaltblütigkeit und Entschiedenheit danken, die sie erneut unter Beweis gestellt haben.“ (Am 24. September waren die Reservisten einiger Waffengattungen mobilisiert worden.) In seiner Rede vor dem Abgeordnetenhaus am 4. Oktober gebrauchte Daladier die gleichen Worte: „Möglich wurde der Erfolg durch die Entschiedenheit, die Frankreich bewiesen hat. Hier muß man unserem geliebten und großen Land eine Huldigung aussprechen.“

2 Chamberlain faßte sein Treffen mit Hitler so zusammen: „Falls ich ihm eine Zusicherung geben könnte, daß die britische Regierung das Prinzip der Selbstbestimmung anerkennt, so Hitler, wäre er völlig offen, über die Mittel und Wege seiner Anwendung zu diskutieren.“

3 Joseph Chamberlain (1836-1914) war von 1895 bis 1903 britischer Kolonialminister und Führer der imperialistischen Bewegung. Er hat Cecil Rhodes (den Gründer und Besitzer Rhodesiens) tatkräftig unterstützt und General Kitchener in den Transvaal-Krieg geschickt, der nach seinem brüchigen Sieg die burische Guerilla mit beispielloser Grausamkeit verfolgte. Joseph Chamberlains imperialistische Politik ging zusammen mit der kuriosen Utopie einer Vereinigung der teutonischen Rassen. Danach sollten sich England, Deutschland und die USA gegen die franko-russischen Ränkespiele zusammenschließen. Dieses Denken konnte Hitler für Chamberlains Sohn nur wohlwollend stimmen.

Quelle: Denis Hollier (Hrsg.), Le College de Sociologie, textes de Georges Bataille, Roger Caillois, Pierre Klossowski, Alexandre Kojeve, Michel Leiris u.a., Paris (Gallimard, collection idees) 1979.

Aus dem Französischen von

Thierry Chervel

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