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Gorbatschow sucht die Entscheidung

■ Überraschend ZK-Sitzung für Freitag einberufen Auch Sitzung des Obersten Sowjet angekündigt

Berlin (taz) - Ein überraschend für heute einberufenes ZK -Plenum und eine für Samstag anberaumte außerordentliche Sitzung des Obersten Sowjet (Parlament der UdSSR) werden voraussichtlich weitreichende personelle und politische Entscheidungen treffen, die auf die Entmachtung der Widersacher Gorbatschows hinauslaufen könnten. Noch am Freitag letzter Woche hatte Gorbatschow vor sowjetischen Journalisten nur vage angedeutet, ein ZK-Plenum könnte in den nächsten Monaten einberufen werden. Außenminister Eduard Schewardnadse mußte seine Gespräche am Rande der UN -Hauptversammlung in New York abbrechen, und auch Verteidigungsminister Jasow wurde nach Moskau zurückgerufen.

Gemäß Informationen aus Moskau soll neben den „Veränderungen im Parteiapparat“ auch über die Nationalitätenkonflikte gesprochen werden, über deren politische Bewältigung in der Vergangenheit unterschiedliche Positionen zwischen Reformern und Konservativen deutlich wurden. Dabei dürfte es vor allem um die Auseinandersetzungen in der hauptsächlich von Armeniern bewohnten aserbeidjanischen Provinz Berg-Karabach und die baltischen Länder gehen. Die ZK-Sitzung wird voraussichtlich mehrere Tage dauern.

Gorbatschow ist nach Meinung mehrerer ausländischer Journalisten und Diplomaten nicht mehr bereit, einer Verschleppung der Perestroika durch Partei- und Staatsapparat tatenlos zuzusehen. Viele werten die Einberufung der ZK-Sitzung als „Überraschungscoup“ Gorbatschows gegen seine konservativen Widersacher, zumal es in den letzten Wochen widerholt zu kritischen Äußerungen bezüglich der Reform auch von ZK-Mitgliedern gekommen war. Als ein Zeichen für die Auseinandersetzungen hinter den Kulissen wird auch der Umstand gewertet, daß ZK-Sekretär Jegor Ligatschow, der zweite Mann in der sowjetischen Hierarchie und „Gegenspieler“ Gorbatschows bei den Gesprächen mit DDR-Partei- und Staatschef Honecker, gefehlt hat. Nach sowjetischen Informationen soll Ligatschow lediglich im Urlaub gewesen sein und heute rechtzeitig zur Sitzung nach Moskau zurückkehren.

Den Kurs der „revolutionären Veränderungen“ verteidigte der sowjetische Generalsekretär auch gegenüber Erich Honecker, der zur Zeit zu einem Besuch in Moskau weilt. All jene, die an dem Tempo der Perestroika Kritik übten, sollten erkennen, daß „das Land nicht mit einzelnen, zersplitterten Maßnahmen aus der Fortsetzung Seite 2

Stagnation“ herauszuführen sei, erklärte Gorbatschow in einem Toast auf die Delegation der DDR. In seiner Rede wies er die Gäste auch darauf hin, daß die Bruderländer von der Entwicklung in der UdSSR nicht unberührt bleiben könnten. „Wir haben ein gemeinsames Schicksal ..., und große Wandlungen in jedem Land wirken sich so und so auf die Lage seiner Freunde und Verbündeten aus.“

Unzufrieden zeigte sich der Generalsekretär mit der Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der UdSSR und der DDR, die noch „weit unter den Bedürfnissen und Möglichkeiten“ beider Länder liege. Auf einem Rundgang einer Industrieausstellung der DDR in Moskau, die nach unbestätigten Informationen der DDR über 40 Millionen Mark gekostet hat, lobte Gorbatschow jedoch auch die „Möglichkeiten der Industrie und der Wissenschaft“ des deutschen Bruderlandes.

Daß Effizienz und Einsatz der modernsten Technik in der Produktion noch nicht heißen muß, die Perestroika überflüssig zu machen, brauchte Gorbatschow auf dem Hintergrund des Machtkampfes in Moskau der DDR-Delegation gegenüber nicht offen auszudrücken.

Das 'Neue Deutschland‘ titelte auf Seite 3 in der Donnerstagsausgabe selbst: Das Zusammentreffen der beiden Delegationen sei „Ein großer Tag, der weit in die Zukunft weist“.

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