: Gorbatschow ist eine Runde weiter
■ Nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten steht im November die Verfassungsreform an / Von Erich Rathfelder
So überraschend die Eile war, mit der Zentralkomitee und Oberster Sowjet einberufen wurden, so erwartet kamen die Ergebnisse. Staatspräsident Gromyko verlor seinen Posten, Gorbatschow ließ sich zum Doppelherrscher über Staat und Partei krönen.
Als Michail Gorbatschow am Samstag mittag vor die 1.500 Deputierten des Obersten Sowjet trat, waren die Entscheidungen schon gefallen. Die personellen Veränderungen in der Parteiführung waren schon vom ZK beschlossen worden, die Abgeordneten hatten nurmehr das Recht, dem Rücktritt ihres bisherigen „Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjet“, dem formellen Staatschef, zuzustimmen und Michail Gorbatschow an seine Stelle zu setzen. An lange Sitzungen und stundenlange Reden gewöhnt, wurden sie diesmal mit einer Regie konfrontiert, die die Personalbeschlüsse in nur 45 Minuten durchzog. Ein leichtes Geraune im Sitzungssaal war das einzige Zeichen der Überraschung, als die von der Parteiführung vorgeschlagenen Umbesetzungen bekantgegeben wurden. Und alle hoben sie brav die Hand, als es zur Abstimmung überging.
Als Vize-Staatschef durften sie den erst am Freitag zum Politbüro-Kandidaten aufgestiegenen Anatoli Lukjanow bestätigen. Ebenso einstimmig wählten sie den bisherigen stellvertretenden KGB-Chef Wladimir Krjutschkow zum neuen Vorsitzenden des sowjetischen Geheimdienstes, der den zurückgetretenen Viktor Tschebrikow ersetzt. Außerdem wurde der bisherige Erste Stellvertretende Ministerpräsident Nikolai Talyzin, der ehemalige Chef der bisher allmächtigen Planungsbehörde Gosplan, zum einfachen Vize-Regierungschef zurückgestuft. Im Gegenzug rückte die am Freitag zur Politbüro-Kandidatin aufgestiegene 66jährige Alexandra Biriukowa in die Riege der Vize-Ministerpräsidenten auf. Und schon konnten sich die am Vortag eilig aus allen Landesteilen der Sowjetunion herbeigeschafften 1.500 Deputierten wieder auf den Heimweg machen.
Ein solches Vorgehen ist nichts Neues in der Sowjetunion. So wurde zu Stalins Zeiten schon mit den Deputierten umgesprungen. Nur zweimal im Jahr dürfen sich bisher die Abgeordneten treffen, obwohl die beiden Kammern des Obersten Sowjet, der Unionsrat und der Nationalitätenrat, formal die höchste Staatsgewalt repräsentieren. In der Praxis konnten sie nur den Beschlüssen der Partei zustimmen, undenkbar waren noch vor kurzem Diskussionen oder gar Konteroversen. Der Oberste Sowjet hatte die Gesetze zu bestätigen, die sein Präsidium in Abstimmung mit der Parteiführung beschloß. Und damit basta.
Doch das soll nun alles anders werden. In seiner kurzen Rede vor den Deputierten wies Michail Gorbatschow den Weg für die zukünftige Rolle der Sowjets, die er gerade mit den Mitteln der alten Strukturen überrumpelt hatte. Nicht mehr die Partei, sondern die Sowjets müßten „im Geiste Lenins“ wieder die „höchste Autorität“ im Staate werden, rief er den Delegierten zu und bekräftigte: „Die Sowjets müssen die Hauptlast des Staates schultern.“ Die institutionellen Veränderungen müßten - wie auf der Parteikonferenz Ende Juni beschlossen - bald in die Wege geleitet werden.
Verfassungsreform
schon im November
Schon im November soll die Verfassungsreform beschlossen werden. Und die wird nicht nur den Staatchef betreffen, der mit größeren Vollmachten ausgestattet wird. Im nächsten Frühjahr, so der Zeitplan, wird ein neuer Oberster Sowjet gewählt, der gemäß den Vorgaben der Parteikonferenz auch in der Verfassungswirklichkeit ein „Kongreß der Volksdeputierten und das Oberste Organ der Staatsmacht“ werden soll.
Dieser Kongreß wird den Staatspräsidenten bestimmen. Seine Abgeordneten sollen für fünf Jahre gewählt werden und ein ständiges Präsidium wählen, „mit einem aus geheimer Wahl hervorgegangenen Präsidenten“. Wie in der Partei soll künftig bei allen Organen der Staatsmacht Kandidatenwettbewerb herrschen. Und: Die höchsten Repräsentanten in Partei und Staat „können höchstens für zwei Amtsperioden gewählt werden“.
Doch zunächst hat sich Gorbatschow selbst neue Vollmachten verschafft und seine Macht konsolidiert. Er hat den Posten des Staatschefs mit dem des Generalsekretärs vereinigt, mit der impliziten Begründung, daß so die Reformpolitik besser durchgesetzt werden kann. Doch nicht nur in Moskau fragt man sich, wie lange dieser Zustand, der ja gegen den Geist der Perestroika verstößt - nämlich die Trennung von Staat und Partei durchzusetzen - dauern soll. Denn auf der Parteikonferenz wurde auch beschlossen, daß die jeweiligen Parteisekretäre bis hinunter zu den Gemeinden auch den Vorsitz der entsprechenden Sowjets beibehalten sollen. Damit wäre auf den ersten Blick die Macht der Partei in den Sowjets festgeschrieben. Doch dafür sollen die Sowjets das Recht erhalten, nicht genehme Parteisekretäre als ihre Vorsitzenden abzulehnen. Dann würde, so argumentieren sowjetische Reformer, der Konflikt in die Partei verlagert. Sie müßte dem jeweiligen Sowjet einen neuen, akzeptableren Kandidaten präsentieren.
Straffung des ZK-Apparats
„Ein beträchtliches Maß realer politischer Macht wird auf die örtliche Ebene übertragen“, kündigte schon am Freitag Wadim Medwedjew, der selbst neu ins Politbüro einzog, nach der Sitzung des Zentralkomitees vor der Presse an. Die KPdSU verfügte ja bislang über zahlreiche Gremien, die auf zentraler wie auf lokaler Ebene die Arbeit der Staatsorgane, der Industrie und der Landwirtschaft kontrollierend begleiteten. Selbst von oben kontrolliert, konnte es passieren, daß die zentralen Instanzen in Moskau bestimmten, wieviele Nägel in eine sibirische Stadt zu liefern seien. Da gleichzeitig die einzelnen Ministerien und auch die Exekutivkomitees der Sowjets über eigene Bürokratien verfügen, entstand ein Kompetenzwirrwarr, das als „Dschungel der Bürokratie“ nur unzureichend beschrieben ist. Die über die sensationellen Personalentscheidungen hinaus bedeutsamsten Beschlüsse des ZK vom Freitag betreffen denn auch die Straffung des Parteiapparats, die ein Signal für das geplante Abspecken der Bürokratie in allen Bereichen ist.
Medwedew gab bekannt, daß die etwa 20 ZK-Abteilungen, denen jeweils ein ZK-Sekretär vorstand und die bisher die einzelnen Sektoren der Volkswirtschaft beaufsichtigten, beseitigt würden.
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