SPD-Eiertanz um deutsch-französische Militärachse

Zeitgleich mit der Stationierung der ersten deutsch-französischen Brigade am vergangenen Wochenende entbrennt in der SPD zwischen „Abrüstern“ und „Verteidigern“ der Streit über die Ratifizierung des Sicherheitsprotokolls zum Elysee-Vertrag und um die Zukunft des bundesdeutschen Atomwaffenverzichts  ■  Von Charlotte Wiedemann

Dorle Marx war sauer: „Ich finde das eine ganz schreckliche und gespenstische Sache.“ Was die Genossin aus dem SPD -Bezirk Hessen-Süd so empörte, war eine Kungelei am Rande des Parteitags in Münster. Anwesende Vertreter der französischen Sozialisten hatten sich über einen Satz im friedenspolitischen Antrag beschwert: Die Zustimmung zur atomaren Strategie Frankreichs, so hieß es dort, widerspreche deutschen Sicherheitsinteressen und scheide als „Preis für die Kooperation“ aus. „Konsultationen während des Parteitags“, formulierte Vorstandsmitglied Karsten Voigt dezent, hätten ergeben, „daß das in unseren Beziehungen zu erheblichen Problemen führen würde. Deshalb wird Streichung empfohlen.“ Folgsam verabschiedete der Parteitag eine gemäßigte Variante dieses Passus, wobei nur noch allgemein die Strategie der atomaren Abschreckung kritisiert wird. „Wir drücken uns wieder einmal um eine Debatte und die eigenen Widersprüche herum“, klagte die Delegierte Uta Zapf. Die Rand-Episode von Münster ist symptomatisch für den Eiertanz, den die Sozialdemokraten um die deutsch französische Militärachse aufführen. Zwar wird darüber in der Partei derzeit weniger heftig diskutiert als ehedem über die „Nach„-Rüstung. Dennoch ist sowohl den „Abrüstungspolitikern“ wie den „Verteidigungspolitikern“ in der SPD klar, daß die Haltung zur deutsch- französischen Zusammenarbeit die wesentlichen außen- und sicherheitspolitischen Fragen des kommenden Jahrzehnts berührt: die mögliche Herausbildung einer europäischen Supermacht und die Rolle der Bundesrepublik als bisherigem Nicht-Atomwaffenstaat.

„Symbolische Eintagsfliege“

Unter dem Schlagwort „Selbstbehauptung Europas“ hat sich die SPD programmatisch auf die Unterstützung eines „europäischen Pfeilers“ in der Nato festgelegt und auf die Forderung, Westeuropa müsse über sicherheitspolitisch „eigene Instrumente“ verfügen, um „eigenständig für Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit in der Welt zu handeln“. Eine neue militärische Supermacht sei aber nicht das Ziel, wurde in Münster einschränkend beschlossen, und auch eine „besondere Militärachse Bonn-Paris“, die andere Staaten ausgrenze, dürfe es nicht geben. Wie sich die programmatische Gratwanderung in der Praxis niederschlägt, zeigten sozialdemokratische Reaktionen auf die Stationierung der ersten deutsch-französischen Brigade am Wochenende. Katrin Fuchs, SPD-Mitglied im Bonner Verteidigungsausschuß, spricht auf einer Kundgebung der Friedensbewegung auf dem Böblinger Marktplatz; ihr Fraktionskollege Egon Bahr bemängelt derweil, daß die Brigade nur eine „symbolische Eintagsfliege“ sei, und „mit Symbolik kann ich nicht verteidigen“. Wie Horst Ehmke fordert Bahr eine integrierte europäische Streitmacht mit einem europäischen Oberbefehlshaber an der Spitze. Die Vision einer mehr als symbolischen konventionellen Zusammenarbeit mit Frankreich versetzt Horst Ehmke geradezu in Begeisterung: „Alles, was an Truppen, an Reserven in Frankreich und Deutschland steht, hat drei große Vorteile gegenüber den Amerikanern. Erstens: Wir entscheiden selbst darüber, und nicht die Amerikaner. Zweitens: Sie stehen schon auf dem Kontinent und brauchen nicht erst herübergeflogen zu werden. Das ist nämlich eine verwundbare Riesenoperation. Drittens: Die Leute kennen sich auf dem Kontinent aus.“

Atomwaffen per Gesetz?

Die nächste Nagelprobe in deutsch-französischer Sache kommt auf die Sozialdemokraten in einigen Wochen zu: wenn im Bundestag das Sicherheitsprotokoll zum Elysee-Vertrag ratifiziert werden soll. Darin sind die Aufgaben des deutsch -französischen „Verteidigungs- und Sicherheitsrats“ festgelegt, der von Mitterand und Kohl bereits im Januar beschlossen wurde, aber noch parlamentarisch abgesegnet werden muß. Was bisher nur als Formalie erschien, scheint nun doch noch eine aufschlußreiche Debatte zu versprechen. Die Sozialdemokraten stoßen sich nicht etwa daran, daß sie für „die Entwicklung und Vertiefung der Rüstungszusammenarbeit“ die Hand heben sollen oder für andere friedenspolitisch anstößige Artikel des Vertrags, sondern sie haben sich an einem bisher unbeachteten Halbsatz der Präambel festgebissen. Dort heißt es, daß sich die Strategie der Abschreckung „weiterhin auf eine geeignete Zusammensetzung nuklearer und konventioneller Streitkräfte stützen muß“. Damit werde, so argumentiert der SPD -Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Notwendigkeit atomarer Bewaffnung per Gesetz festgeschrieben. Wenn sich die Bundesrepublik in dieser „essentiellen Frage“ an Frankreich binde, wo die nukleare Doktrin so verankert sei wie in kaum einem anderen Land, werde der Status der BRD als Nicht -Atomwaffenstaat in Frage gestellt. Scheer: „Wenn das Sicherheitsprotokoll so verabschiedet wird, wird die deutsche Unterschrift unter den Atomwaffensperrvertrag ad absurdum geführt.“ Scheer fordert, der Bundestag müsse in einer Zusatzerklärung „das deutsche Selbstverständnis, auf keinen Fall Atomwaffenstaat sein zu wollen“, festschreiben. Andere in der Fraktion wie Florian Gerster, der dem „Seeheimer Kreis“ der Parteirechten angehört, finden es hingegen „völlig unangemessen“, wegen „dieser einen Frage“ womöglich mit Nein zu stimmen. Dies würde die SPD „ins Abseits“ bringen und sei den „sozialistischen Freunden“ in Frankreich nicht zu vermitteln.

Bei Friedenswissenschaftlern und auch bei Grünen gibt es Verwunderung darüber, daß die Sozialdemokraten ausgerechnet an diesem Halbsatz des Vertrags die ansonsten berechtigte Befürchtung nuklearer Teilhabe aufhängen. Für den grünen Bundestagsabgeordneten Alfred Mechtersheimer steht fest, daß der Zugang zum französischen Nuklearpotential für die politische Elite in der BRD das Hauptmotiv ist, die sicherheitspolitische Komponente des Ellysee-Vertrags nach 25 Jahren wiederzubeleben. Dies sei aber nicht vom Wortlaut des Sicherheitsprotokolls abhängig. Auch wenn es also den Anschein hat, daß die SPD auf einem Nebengleis juristischer Spitzfindigkeit agiert, werden dadurch politische Fronten in Bewegung gebracht. Denn bisher haben sich führende Sozialdemokraten auf den Standpunkt gestellt, der Atomwaffensperrvertrag und der von Adenauer 1954 ausgesprochene Atomwaffenverzicht sei ausreichender Riegel vor bundesdeutschen Wünschen nach nuklearer Teilhabe. Gegenüber der von den Grünen aufgebrachten Forderung, den Atomwaffenverzicht im Grundgesetz zu verankern, vertrat auch Hermann Scheer diese Ansicht. So wasserdicht scheint der bisherige Atomverzicht aber nun doch nicht zu sein, wenn er schon durch den Halbsatz einer Präambel ins Wanken geraten kann. Scheer argumentiert nun, die Grundgesetz-Initiative müsse „neu überdacht“ werden, wenn die von ihm gewünschte Zusatzerklärung zum Sicherheitsprotokoll im Bundestag keine Mehrheit fände (siehe Kasten). Auch in anderer Hinsicht könnten die Sozialdemokraten gezwungen sein, Farbe zu bekennen: ob nämlich für die eigenen Reihen eine Forderung des Münsteraner Parteitags erfüllt ist - „Jeder Verdacht, es ginge um eine deutsche Teilhabe am französischen Nuklearpotential, und sei es im Rahmen einer europäischen Atommacht, muß unmißverständlich ausgeräumt werden.“ Für bundesdeutsche Beteiligung an einer westeuropäischen nuklearen Planungsgruppe ist zumindest Egon Bahr schon lange.