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Wundersame Mitgliedervermehrung

■ Wie die Kreuzberger AL zu neuem Stimmvieh kam

Als das AL-Mitglied Benno Hoppmann seinen Blick durch den Versammlungsraum im Mehringhof schweifen ließ, war er zufrieden. Um ihn herum alles alte Bekannte, die aktiven AL -ParteiarbeiterInnen aus dem Bezirk Kreuzberg. Am heutigen Abend, dem 13.9. 1988, sollten die Mitglieder der AL Kreuzberg ihre DirektkandidatInnen für das Abgeordnetenhaus und für die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) wählen, denn am 29.Januar 1989 ist in Berlin Wahltag. Nach Vorstellung und Befragung der KandidatInnen schritt man zur Wahl der Direktkandidaten. Für jeden der vier Kreuzberger Wahlkreise einen, der Quotierung entsprechend zwei Frauen, zwei Männer. Alles lief erwartungsgemäß, eine Kampfwahl fand nicht statt.

Im Wahlkreis SO36 allerdings gab es zwei Kandidaten: Der Rechtsanwalt Klaus Croissant trat gegen den bisherigen Wahlkreisinhaber Volker Härtig an. Mit Zweidrittelmehrheit, 31 zu 15 Stimmen, verlor Härtig seinen Wahlkreis an den Rechtsanwalt. Ein Ergebnis, das für Kenner der AL-Kreuzberg keineswegs überraschend kam. Schon lange waren die Entscheidungen und die Politik des Kiezfürsten Härtig, wie ihn seine politischen Gegner spöttisch nennen, heftig umstritten. Gehässige Prognose aus dem Geschäftsführenden Ausschuß (GA) der AL: „Wenn der Härtig wieder gewählt wird, müssen wir dem auch noch einen Leibwächter stellen.“

Befragung und Vorstellung der Kandidaten hatte viel Zeit gekostet, man beschloß daher, die Wahl zu unterbrechen und die Sitzung mit der Wahl der BVV-Kandidaten am 20.9. fortzusetzen.

Wieder blickte Benno Hoppmann in die Runde - und war erstaunt: Seit der Sitzungsunterbrechung am 13.9. hatte es einen rapiden Mitgliederzuwachs gegeben. Mindestens ein Dutzend „Neue“ machte der Betriebsrat und Al-Aktivist aus, die Mehrheit davon hatte er zuvor noch nie gesehen. Wer in der AL KandidatInnen mitwählen will, muß Mitglied der Partei sein, so schreibt es die Satzung vor. Das waren die Neuen dann auch. Gleich mit einem ganzen Packen neuer Mitgliedsausweise auf einmal tauchte der Härtig-Intimus Steinert (O-Ton eines BVV-Abgeordneten in Kreuzberg) gerade rechtzeitig vor der Fortsetzung der Sitzung noch am 19. September im AL-Basis-Büro auf und ließ sich die Ausweise abstempeln. Darunter die Sekretärin von Baustadtrat Orlowski, drei BVV-Abgeordnete und die Gesundheitstadträtin Brunhild Dahte, die noch in aller Eile Mitglieder der AL wurden. Auch die anderen Neuen haben ein ausgesprochen frisches Eintrittsdatum: den 19. September. Der BVV-Kandidat Härtig holte bei der Wahl der BVV-Kandidaten am nächsten Tag dann mächtig auf. Mit 28 Stimmen, genau 13 Stimmen mehr als bei der letzten Wahl, schlug er seinen Mitbewerber Croissant um eine Stimme.

„Hier geht es doch nicht mit rechten Dingen zu“, entfuhr es dem anwesenden GA-Mitglied Birgit Arkenstette, die diese „Vorfälle unverzüglich im GA diskutieren will“. Und der meldete sich dann auch am 22.9. mit einem Brief an die „lieben Kreuzberger WählerInnen und Gewählten“ zu Wort. Es gab Schelte: „Die kurzfristig vor der letzten Bezirks-MVV angemeldeten Neueintritte in die Kreuzberger AL in wurden wie sagt man so schön - mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Sie waren Anlaß, uns mit den Bestimmungen der Satzung zum Eintritt in die Liste zu befassen. Dabei haben wir festgestellt, daß Ausführungsvorschriften fehlen. Da haben wir nachgebessert: In Zukunft werden Beitrittserklärungen erst wirksam, wenn der GA sie zur Kenntnis nehmen konnte, also immer freitags nach der nächsten GA-Sitzung.“

Möglicherweise war der Eileinsatz der Härtig -Symphatieriege, samt und sonders aus Kreuzberg 61 stammend, völlig umsonst. Inzwischen beschäftigt sich auch das Schiedsgericht der AL mit der wundersamen und so termingerechten Mitgliedervermehrung in Kreuzberg. Und noch mit einem weiteren Punkt wird sich das Schiedsgericht befassen müssen: ob es überhaupt Satzungskonform ist, daß während einer Wahl-MVV, die ja nur unterbrochen wurde, reihenweise neue Mitglieder auftreten und mitwählen dürfen.

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