: TRUCH-VIBINE BUCH-VITRINE
■ Eine Ausstelung zum Be-nutzen der Bücher in der AGB
Der nun vollends beurlaubte und in die Kulturarbeit abgeglittene Hilfsredakteur sagt zu mir, Du bist doch ein Vitrinen-Experte. Seine Assistentin, die giftige Stachelbeere, assistiert ihm: In der Bibliothek zum Gedächtnis von Amerika am Platz der Blücher in Berg vom Kreuz hart an der Grenze zu Hertie steht auch eine. Es sind übrigens zwei Vitrinen, 3,06 m x 0,90 x 0,34. Ich geh‘ also hin, wo man sonst nur durchgeht, in die Vorhalle zum Eingang, leider paßt hier kein Foto hin ... es ist hinten in der Ecke, hinter der letzten Stelltafel vom Nordseesterben („Mond, Ebbe-Flut“), quer zu der Tür mit der schönen Aufschrift: Kein Eingang, kein Eingang, kein Eingang.
Mich trifft trotzdem der Schlag: Es geht um Bücher, unter dem Titel „Zufällige (P)Funde aus den Beständen der AGB“ und „Vom (Be)nutzen der Bücher“. Die zur Toilette wollen, müssen dran vorbei. Die können sich ja hinterher etwas Zeit nehmen.
Es ist sorgfältig gearbeitet worden, mit drei Abteilungen: I. Wie man ein Buch liest, II. Wie man ein Buch kommentiert, III. Wie man ein Buch (auch noch) benutzt. Wenn ich systematisch vorgehe, komme ich I. von L1Lektüre ersten Grades (einfache Anstreichungen, spärlich) über L2 (zweiten Grades) oder L mit permanent erregtem Stift zu den verschärften SSLL dritten Grades, sogenannte supraschwere von absoluter Unwiderruflichkeit; SSL Stift- und Lineale -Le (den Kommentar des freiheitsliebenden Ausstellers kann man sich denken); MDLmehrfach dokumentierte Le (Mehrfache und heftige (Marker!-) Anstreichungen. Berechtigte Frage: Wann ist das System „Buch“ rezeptionsfähig gefährdet?); SRL... Stift und Radiergummi... PAL ... unmittelbarer Bezug zu praktischen Arbeit (Auto-Reparatur-Anleitung... na?) und PAEL ... mit sichtbarem Ergebnis der Arbeit (Kochbuch: diese blassen Flecken, die vielleicht Blut oder Rotwein gewesen sind, sollen mir einen Eindruck vom „Waadtländer Speckkuchen“ vermitteln? Mich würde eher interessieren, warum da direkt unterm Rezept 19,45 Mark steht? Beginn der Planung, des Essens, in den Backofen stecken, Timing?
Indem ich nun systematisch weiterschreite, hier meine erste und letzte Kritik. Wäre es nicht sinnvoll gewesen, mit der Systematik konsequent fortzufahren und alle Len mit Abkürzungen zu versehen - schon aus Katalogisierungsgründen? Schreckte hier der Bibliothekar vor seinen Fähigkeiten und seinem daraus hervorgehenden schlechten Image zurück? Warum gerade die Len mit Nützlichkeitseffekt für andere nicht mit Kürzel versehen? So die mitzusätzlicher Seitenzählung (LZS), mit Zwischentitelproduktion (LZZ), mit Minimalregister (LZM) und mit Markierung der wesentlichen Stellen (LZMWS; Leseenergie-Ersparnis 70 Prozent!). Diesen Mangel muß man, nunmehr zu Ebene II (Kommentare) fortschreitend, ab jetzt in Kauf nehmen. Es gibt dort folgende Möglichkeiten: Korrekte Nachbesserung. Die Unwahrheit des Buches wird einfach korrigiert. (Der Benutzer müßte das Buch eigentlich selbst neu schreiben.) Dann die „emotionale klassifizierende Bewertung“, zum Beispiel bei einem Geschichten-Band:
Saki, Sredni Vashtargut; Evelyn Waugh, Der Mann, der Dickens liebtegroßartig; W.F. Harvey, Augusthitzesehr gut; Shirley Jackson, Die Lotteriesuperb; A.M. Burrage, Die Wachsfigursehr gut; Evelyn Waugh, Miss Bella gibt eine Gesellschaftgut; Richard Middleton, Das Geisterschiffsüß!
Da gibt's noch die Autorenbewertung, z.B. Fritz J. Raddatz, Zusatz: ist ein Schwätzer, zweiter Zusatz: mit Recht. (?) Oder die „differenzierte ideologische Bewertung“ des Autors, z.B. Alfred (Adolf) Adler (Alfred durchgestrichen, Adolf drübergeschrieben), Titel: Das Problem der Homosexualität und sexuellen Perversionen. Erotisches Training und erotischer Rückzug. Darunter groß und schwarz und quer: Lesbenpower statt Spermienschauer. Unter der Überschrift „Tod“ - ich entziffere im Buchtext “... schrieb Creuzer den letzten Brief an die Günderrode...“: „Männer sind echt und für immer: Der letzte Dreck.“ „Der letzte Dreck“ eingerahmt. Bücher können natürlich auch dekorativ gestaltet (Buchstaben ausmalen, Freiräume mit Buntstift etc.), oder als „Freifläche für eigene Darlegungen“ benutzt werden. Zwei Beispiele auf den Vorsatzblättern „all-over-painting“: „Sei ganz furchtbar lieb gegrüßt von Deinem Dich innig liebenden Knuddel-Bienchen“, Kringel und rotes Herzchen darunter, oder (quer) „Kannst Du mich bitte wecken gegen neun Uhr“. (Wie ist der/die an diese Nachricht zwischen zwei Buchdeckeln rangekommen?) Richtige messages aus dem „Zeitgespräch der Gesellschaft“ (Münchner Schule der der Zeitungswissenschaft) gibt's auch. Unterm Titel „Wolkentheater“ raunt der Text: „Unberührt von Teilnahme, Beifall oder Ablehnung, wird das gewaltige Stück weitergespielt, das mit der Erschaffung der Erde begann und dessen Ende niemand kennt.“ Darunter mit dickem lila Buntstift „auf die Dauer Lesbenpower“.
Zu guter Letzt dient das Leih-Buch auch als Behälter, z.B. für die „Martor Schaber-Klinge Nr. 47“, diverse Postkarten und Bilder, sogar Lesezeichen, Zigarettenpapier und die Verpackung einer „Wärmesohle mit 100 Prozent Schurwolle“. Ich muß sagen, daß das alles recht harmlose Dinge sind, und fragen, ob da bei der Auswahl nicht eine kleine Zensur stattgefunden hat? (Was soll so eine dumme intellektuelle Wichserei in unserer Zeitung? - d.S.) - (Mensch, Kollege: Onanieren hat noch keinem geschadet! d. 2. säzzer)
Die gelungene Strategie mit der Vitrine sollte unbedingt gefördert werden. Als nächstes wäre an eine Razzia in den Schubläden der AGB-Mitarbeiter zu denken ... Die Ausstellungstechnik könnte zudem so weit gebracht werden, daß sie den strengen, heute größtenteils noch gültigen „Instruktionen für die alphabetischen Kataloge der Preußischen Bibliotheken vom 10. Mai 1899“ entspricht. Gleichzeitig würde sie auch die Kriterien des „erweiterten Kunstbegriffs“ von Beuys befriedigen. Was spräche gegen eine Berliner Bibliotheks-Vitrinen-Ausstellung im Gropius-Bau? Dafür sollte sich ein breiter, öffentlicher Konsens finden lassen.
Das letzte Wort hat natürlich der Leser: „Der das list ist doof“.
Martin Reuter
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