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Chiles Diktator ausgezählt

■ Über 54 Prozent der ChileInnen haben gegen den Diktator gestimmt / Nur 43 Prozent wollen Pinochet weitere acht Jahre / Freudentaumel in Santiago / Die Armee hält sich zurück / Militärregierung bietet Rücktritt..

Die Chilenen haben Pinochet eine unerwartet deutliche Abfuhr erteilt. Selbst die offiziellen Zahlen der Militärregierung ließen gestern keinen Zweifel zu: 54 Prozent der 7,2 Millionen WählerInnen stimmten gegen den Diktator, nur 43 Prozent sprachen sich für eine weitere achtjährige Präsidentschaft des Generals aus. Den Militärs stellt sich nun die Frage, ob sie den Verlierer Pinochet - wie von der Verfassung der Diktatur vorgesehen - ein weiteres Jahr als Präsident akzeptieren oder ob sie ihn, wenn auch sicher nicht morgen, fallen lassen und mit der Opposition einen Übergang zur Demokratie aushandeln. Sprecher der Opposition erneuerten jedenfalls umgehend ihre Forderung nach Verhandlungen mit den Militärs: Jetzt soll die Verfassung verändert werden, damit freie Wahlen schneller möglich werden.

Erste Reaktion der Herrschenden in Santiago auf den Sieg des „Nein“: Das Kabinett Pinochets bot seinen Rücktritt an. Reaktion des Diktators: zunächst keine. Dagegen ging die Opposition gestern morgen lautstark mit Demonstration und Autocorso auf die Straße, um zu feiern.

Drei Stunden lang schien in der Nacht zum Donnerstag alles möglich in Chile. Am Mittwoch gegen 21 Uhr Ortszeit war offensichtlich, daß die Opposition das Plebiszit gewonnen hatte. Doch das Regime gestand seine Niederlage zunächst nicht ein, im Gegenteil, es beharrte auf ersten Zahlen, die einen Sieg Pinochets glauben ließen. In Teilen der Hauptstadt wurde der öffentliche Verkehr eingestellt, offenbar, um potentielle Demonstrationen und Neugiere aus dem Zentrum des Geschehens in der Innenstadt fernzuhalten. Im Rundfunk war von einer gerade einberufenen Kabinettssitzung die Rede. Im Regierungsviertel hatten an jeder Ecke Soldaten und Polizisten Stellung bezogen. Und der Diktator sprach schon von bewaffneten Kommandos, die in den Armenvierteln gesichtet worden seien.

Kurz nach Mitternacht gestand schließlich als erster Sergio Onofre Jarpa, früher Innenminister Pinochets und heute Chef der Fortsetzung auf Seite 2

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rechtsradikalen „Renovacion Nacional“ und neben dem amtierenden Innenminster Sergio Fernandez wohl der wichtigste Exponent der Kampagne für eine weitere Präsidentschaftsperiode Pinochets, die Niederlage ein. Anderthalb Stunden später akzeptierte auch Luftwaffenchef Fernando Matthei, Mitglied der vierköpfigen Militärjunta, das Votum der Chilenen, und kurz danach gab auch Pinochet selbst klein bei.

Zwar war am Dienstag abend wie schon einmal drei Tage zuvor in ganz Santiago der Strom ausgefallen. Kurz danach gingen ein halbes Dutzend Bomben hoch. Doch entgegen vielen Befürchtungen verlief der Urnengang - von wenigen kleineren Zwischenfällen abgesehen - in „absoluter Normalität“, wie die Regierung und Opposition nicht müde wurden zu betonen. Vor allem in den ärmeren Vierteln Santiagos standen die Leute oft bis zu vier Stunden in der Mittagshitze in Schlangen, die über einen Kilometer hinauswuchsen - mit einer geradezu gespenstischen Disziplin.

Für das „Nein“ 59, für das „Ja“ 41 Prozent: das gab um 21 Uhr Genaro Arriaga, der Generalsekretär des 16 Parteien von rechts bis links umfassenden „Kommando für das Nein“ auf Basis von drei Prozent der ausgezählten Stimmen bekannt. Während die Opposition ihre Zahlen alle halbe Stunden aktualisierte, blieben die Säulen auf den Computern im Pressesaal der Junta zwei Stunden lang unverändert gleich, die rote „Ja„-Säule entschieden höher als die blaue „Nein„ -Säule. Es war unübersehbar: das Innenministerium hielt ihrem eigenen Pressezentrum gegenüber die Ergebnisse zurück. Statt dessen tagte das Kabinett.

Im „Haus des Nein“ war indessen Patricio Aylwin aufgetaucht, Chef der Christdemokratischen Partei und Sprecher des „Kommando für das Nein“, und erklärte schon gegen 22 Uhr, was den Hunderten von Journalisten längst klar geworden war, ganz offiziell: Das „Nein“ hatte gewonnen. Gleichzeitig rief er die Bevölkerung zur Ruhe auf, bat, von Demonstrationen Abstand zu nehmen, sich nicht provozieren zu lassen und weitere Anweisungen abzuwarten. Und wieder wirkte der Appell. Entgegen vielen Erwartungen hielten sich auch die Bewohner der Armenviertel an die Parole von oben.

Um zwei Uhr früh erschien Aylwin noch einmal und rief zur nationalen Versöhnung auf, um die Gräben zu überwinden, die dieses Pebiszit aufgerissen hat. An die Streitkräfte richtete er einen Appell, sich zu Verhandlungen bereitzuerklären, und die Chilenen forderte er auf, den Sieg zu feiern, nicht heute, sondern sobald zu gegebener Zeit das „Kommando für das Nein“ das Signal gebe.

Kaum hatte der Christdemokrat gesprochen, brach ein Siegestaumel ohnegleichen aus. Auf die Nationalhymne folgte der „Walzer des Nein“. Und immer wieder der Ohrwurm der Opposition: „La alegria ya viene“ - „Die Freude ist schon unterwegs“. Einige der Journalisten, die sich nochmal auf die andere Straßenseite aufmachten, wo der Staatssekretär um halb drei Uhr früh gerade die dritten „aktualisierten“ Zwischenergebnisse innerhalb von immerhin sieben Stunden diesmal 53 zu 44 für die Opposition - bekanntgab, wären in dieser geschichtsträchtigen Nacht beinahe einen banalen Tod gestorben. Da brauste ohne jede Ankündigung mit 180 Sachen eine Kolonne von vier gepanzerten Mercedeswagen vorbei. Spontanes Klatschen. Waren es bereits die Fluchtautos? War es denn überhaupt Er, oder war Er es nicht?

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