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Unter ferner liefen

■ Autor Jürgen Schulz war einer der namenlosen Mitläufer unter den 14.546 TeilnehmerInnen / nach vier Stunden im Ziel-hier sein Bericht

Am Brandenburger Tor herrscht gespannte Atmosphäre. Wo sonst Präsidenten für den Abriß der Mauer dröhnen, wollen über 14.000 LäuferInnen ihre individuelle Grenze überwinden. Berlin-Marathon, der ganz persönliche Ausnahmezustand. Ich passiere den Checkpoint, der das Jogger-Meer von Angehörigen und schaulustigen Normalos trennt. Mich empfängt der facettenreiche Geruch von Tinkturen, Einreibemitteln und Elektrolytgetränken. Manche Läufer erläutern ihre Taktik, andere wiederum reden von Durchgangszeiten und Bestleistungen: die große, weite Welt des Marathon.

Im Vorübergehen begrüße ich einen alten Bekannten, mit dem ich schon manchen Asphalt geknetet habe. Heute wirkt auch er sichtlich nervös, schließlich steht der Saisonhöhepunkt an. Es ist neun Uhr. Diepgen gibt das Startsignal, militant, wie er ist, mit der Pistole.

„Auf geht's“, mache ich mir Mut, doch zunächst bleibt es bei zaghaften Schritten, weil alle Ausreißversuche im dichten Pulk stecken bleiben. „Nur noch 41 Kilometer“, grinse ich meinen Nachbarn bei Kilometer eins an. Augenscheinlich ein Schwede, wie ich an seinem Drei-Kronen -Trikot erkenne. Er verstehe leider kein deutsch, bedauert er halb englisch, halb schwedisch, wünscht mir aber viel Glück.

Auf den ersten zehn Kilometern den Rhythmus zu finden, fällt mir nicht leicht. Unter dem Jubel des Publikums führt die Strecke über Alt-Moabit in die Innenstadt, wo bereits die ersten Mitläufer Probleme bekommen, weil sie ein zu hohes Anfangstempo angeschlagen haben.

Meine ganze Konzentration gilt Kilometer 20 in der Gneisenaustraße. Dort wartet meine Clique auf mich, rumort, fotografiert und versucht, mich mit kühlen Bierchen aus der Facon zu bringen. Dabei gehen dieses Jahr gekühlte Getränke bestimmt nicht weg wie warme Semmeln. Der kalte Regen klatscht erbarmungslos auf das Läufer-Meer, und die Zuschauerreihen zeigen bedenkliche Lücken. Bei Kilometer 30, zwischen Steglitz und Dahlem, habe ich meine persönliche Krise. Es geht nicht mehr viel, die Kälte hat die Muskulatur hart werden lassen. Den Blick stur auf die Laufschuhe geheftet, hoffe ich, daß es mir nicht so ergeht wie einem Kollegen, der sich lautstark in ein vornehmes Dahlemer Gärtchen übergibt.

Andere hat's noch schlimmer erwischt: mit blauen Lippen liegen sie auf den Rot-Kreuz-Bahren und lassen sich die verkrampften Haxen massieren. Die Krankenwagen fahren Sondereinsätze. Von einem Sanitäter erhalte ich eine Beinmassage. Daß ich von ihm nur die Worte „Zu kalt“ und „Vaseline“ höre, liegt bestimmt nicht daran, daß sich die körpereigenen Opiate gebildet haben, die angeblich ab Kilometer 30 zu wirken beginnen: Ich bin nur fix und fertig.

Leidlich hergerichtet, stürze ich auf die Piste zurück und bringe die letzten sieben Kilometer hinter mich. Zum Jubeln habe ich im Ziel keine Kraft mehr, nicht einmal die Zeit konnte ich von der Anzeigetafel ablesen.

Jetzt fehlt nur noch die warme Dusche und dann einige kühle Bierchen - aber das ist wieder ein ganz andere Geschichte. Jürgen Schul

siehe auch „Schlachtenbummel“, S.20

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