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Die Unsichtbaren

■ Nanni Balestrini, italienischer Autor mit Knast- und Exilerfahrung, bei uns vor allem durch seinen Roman „Wir wollen alles“ bekannt, schildert in seinem neuesten Buch „Die Unsichtbaren“ das Leben italienischer Stadtindianer und ihre „Behandlung“ durch die Staatsorgane. Wir danken dem Weismann Verlag für die Erlaubnis zum Abdruck eines Kapitels aus dem Band

Nanni Balestrini

Diese Sache werde ich nie vergessen ein wahrhaft ohrenbetäubender Lärm ein Lärm der von oben kam ein Lärm der von überall herkam der immer lauter wurde immer ohrenbetäubender uns war fast augenblicklich klar daß es der Lärm von Hubschraubern war und diese Hubschrauber machten einen entsetzlichen Lärm das war nicht nur ein Hubschrauber das mußten viele Hubschrauber sein und einen Moment lang waren wir alle wie erstarrt alle waren ganz verstört denn jeder von uns hatte einen militärischen Eingriff an dem Punkt an dem wir angelangt waren für ausgeschlossen gehalten ausgerechnet jetzt wo die Verhandlungen so weit gediehen waren und dann war da doch die Sache mit den neunzehn Wärtern keiner dachte daß sie das Leben der neunzehn gefangengenommenen Wärter aufs Spiel setzen und eine militärische Intervention machen würden

sie kamen man hörte diesen ohrenbetäubenden Hubschrauberlärm alles bebte die Wände bebten alles schien zu beben und jeder reagierte anders was ich sah war das totale Durcheinander eine Situation wie ich sie schon früher mal erlebt hatte wenn die Bullen gegen einen Demonstrationszug stürmen und kein Ordnungsdienst da ist der einem Polizeisturm begegnen und die Demonstranten schützen kann damit sie Ruhe bewahren und sich geordnet zurückziehen und die Demo auflösen genau so war die Situation eine Situation der allgemeinen Panik aber obwohl diese Panik herrschte waren alle immer noch überzeugt daß alles Bluff war daß die nur blufften und in Wirklichkeit gar nicht kommen würden und noch als die ersten Explosionen zu hören waren dachte man das sei nur zur Abschreckung

dann war es so die militärische Aktion lief so ab die kamen also mit den Hubschraubern die Szene die ich gesehen habe das waren diese riesigen Hubschrauber die angeflogen kamen und diesen ohrenbetäubenden Krach machten und durch ein Flurfenster sah ich sie ganz genau in schwarzen Uniformen alle bis an die Zähne bewaffnet mit Schutzhelmen die den ganzen Kopf bedeckten ich sah wie sie in den Helikoptern standen und wie sie ausstiegen wie sie gerade dabei waren auszusteigen mit Strickleitern mit Seilen was weiß ich jedenfalls stiegen sie aufs Dach von den Hubschraubern aus auf das Flachdach über uns da war dieser ohrenbetäubende Lärm diese Explosionen die Hubschrauber kamen schubweise die einen kamen runter und sofort trafen die nächsten ein und so weiter

die kamen also aufs Dach sprangen aufs Dach runter und begannen Bomben zu schmeißen sie sprangen aufs Dach und auf dem Dach war eine Falltür diese Falltür sprengten sie mit ihren Bomben die Falltür führte zu einer Wendeltreppe die Wendeltreppe endete vor einem der Sperrgitter an der Rotunde im zweiten Stock das wir verschweißt hatten die sprengten also unverzüglich diese Falltür auf dem Dach die zur Wendeltreppe führte und kaum war die Falltür offen warfen sie noch bevor sie runterstiegen Plastikbomben runter eine nach der anderen das heißt sie schmissen die Bomben wirklich die Treppen runter und durch die Bomben die am laufenden Band unten in die Rotunde schlugen gab es dieses wirklich ohrenbetäubende Getöse der Explosionen

jetzt wurde allen klar daß die wirklich kamen daß es kein Bluff mehr war und im übrigen hörte man die Explosionen nicht mehr nur von oben sondern auch von unten denn sie griffen jetzt auch von unten an und da brach die allgemeine Panik aus und das lief so ab daß in diesem Augenblick jeder für sich allein entschied was am besten zu tun war es gab keine geordnete Reaktion auf die Sache nicht die geringste gemeinsame und geordnete Reaktion und auch diejenigen die sich organisiert hatten reagierten nicht diszipliniert und organisiert und nicht einmal bei denen die mit einem Überfall gerechnet hatten die gemeint hatten das könnte passieren gab es irgendeine Art von Organisation als wir sahen daß die wirklich anfingen Bomben zu schmeißen

zwar war da ja eine Art Militärdienst organisiert worden undsoweiter der bewaffnet war das heißt da waren also diese Leute diese Genossen die Bomben besaßen die man gebaut hatte die Genossen die dieses Plastik in den Espressomaschinen hatten aber es gab keine geordnete Reaktion das was ich erlebt habe das war ein schreckliches Durcheinander jeder reagierte wie er es unter solchen Umständen für das beste hielt aber jeder für sich so daß es in diesem Augenblick nicht die geringste geordnete Reaktion gab keiner bezog sich auf irgend jemanden jeder verließ sich nur auf sich selbst und auf den eigenen Instinkt

die Leute ergriffen die Flucht rannten weg rannten hin und her hin und her in diesem eng begrenzten Raum rannten im Gang hin und her raus aus den Zellen und wieder rein wild und chaotisch die ganzen langen Minuten hindurch ohne im geringsten zu wissen was sie tun sollten auf der Suche nach jemand den sie nicht fanden liefen in die Zellen und wieder raus kurzum die klassische Fluchtsituation angesichts eines Polizeisturms wenn man ohne Schutz ist nur mit dem Unterschied daß du wenn du vor einem Polizeiangriff fliehst einen unbegrenzten Raum vor dir hast hier dagegen flüchteten alle wie Mäuse im Käfig denn alle wußten instinktiv daß kein Platz war man steckte fest in diesem Raum und die kamen und schmissen Bomben und da war dieser ohrenbetäubende Krach von den ständigen Explosionen die dir das Trommelfell zerrissen

ich erinnere mich daß ich gerade nur Zeit hatte mit meinem Zellengenossen rasch zu besprechen was man tun könnte ich sah ihn dort auf dem Gang und sagte zu ihm hör mal was machen wir jetzt und er sagte ich finde wir sollten in den ersten Stock runtergehen denn die kommen von oben die kommen vom Dach runter ein paar Sekunden und die sind da es ist also besser in den ersten Stock runterzugehen und ich erinnere mich daß ich zu ihm sagte hör mal die kommen doch auch vom Erdgeschoß herauf die kommen in den ersten Stock herauf es läuft also genau aufs gleiche hinaus und die Frage ist jetzt doch nicht ob wir hierbleiben oder ins Erdgeschoß runtergehen sollen die Frage ist was wir jetzt tun sollen aufgeben oder irgendwas tun und was tun wenn man etwas tun kann aber er sagte nein ich geh runter ins Erdgeschoß

dann lief es so ab daß jeder sich instiktiv und spontan für das entschied was ihm in dieser Situation am besten schien und es kam zu dieser Spaltung in diejenigen die blieben und diejenigen die gingen aber das Merkwürdige bei dieser Spaltung in jene die obenblieben und jene die runtergingen war daß sich alle vermischten die die dagegen waren Widerstand zu leisten weil es unmöglich war Widerstand zu leisten weil ohnehin nichts mehr zu machen war und es schon viel war wenn man seine Haut retten konnte mit denen die Widerstand für möglich hielten auch wenn sie keine Ahnung hatten wie man es anstellen sollte es war also nicht so daß die einen oben blieben und die anderen runtergingen sondern sie waren dann alle vermischt oben wie unten

ich im zweiten Stock hörte wie jemand brüllte wir sollten uns alle im großen Gemeinschaftsraum versammeln also liefen ungefähr dreißig Genossen in diesen Gemeinschaftsraum und dort war es dann zeitweise fürchterlich weil sie den Strom abgeschaltet hatten es war inzwischen Nacht geworden man hörte schreckliche Explosionen alle kauerten an der Wand hinten an der Wand des Gemeinschaftsraums alle hockten aufeinander und waren überzeugt die würden uns alle umbringen denn seitdem sie da waren hatten sie unaufhörlich eine Bombe nach der anderen geworfen und man sah den Putz durch die Luft fliegen Stücke des Fußbodens durch die Luft fliegen das war das letzte was ich sah bevor sie den Strom ausschalteten Löcher im Fußboden von den Bomben die sie vom Dach aus runterwarfen

einige der gefangenen Wärter wurden in den ersten Stock runtergebracht mit Messern an der Kehle die anderen Wärter blieben oben im zweiten Stock und wir nahmen sie mit in den Gemeinschaftsraum die Wärter waren entsetzt als man ihnen die Zellen aufschloß in denen sie sich befanden und sie rauszerrte mitten in das ganze Chaos in diesen Höllenlärm und dieses Durcheinander mit den in alle Richtungen rennenden Leuten dem ununterbrochenen Krachen der Bomben die in einem fort explodierten man zerrte die Wärter aus den Zellen und die waren sich sicher daß ihnen jetzt der Kopf abgeschnitten würde und stieß sie die Treppe runter einen nach dem anderen die dachten man würde sie umbringen und runterwerfen um die Eindringliche aufzuhalten

diese Wärter sagten kein Wort sie hatten weit aufgerissene Augen einer war dabei der vor Angst immer wieder in Ohnmacht fiel er war totenbleich die Beine knickten ihm ein und er fiel ständig in Ohnmacht deshalb gab ihm ein Genosse Ohrfeigen damit er nicht in Ohnmacht fiel dann kippten sie ihm einen Eimer Wasser ins Gesicht und diejenigen die ihn an den Armen festhielten damit er nicht umfiel sagten immer wieder er solle ruhig sein sie würden ihn nicht umbringen die Wärter im Gruppenraum oben im zweiten Stock wurden von niemandem festgehalten von niemandem bedroht sie schrien aus den Fenstern schrien sich die Kehlen wund nicht reinkommen nicht reinkommen sonst bringen die uns alle um aber da sagte ein Genosse eure Kollegen bringen euch um nicht wir

übrigens trugen die Wärter ja keine Uniform mehr sie waren ganz normal gekleidet wie wir und waren mithin denen die reinkamen und Bomben warfen und um sich schossen genauso ausgeliefert wie wir sie waren von uns nicht zu unterscheiden und keiner von uns bedrohte sie tat ihnen irgendwas zuleide sie kauerten genau wie wir an der Wand zitterten genauso vor Angst wie wir und in diesem Moment gab es einen Augenblick der Solidarität zwischen allen weil wir alle in der gleichen Situation waren weil es um Leben und Tod ging und den Wärtern völlig klar war daß die Karabinieri auch ihr Leben aufs Spiel setzten daß die Karabinieri ihr Leben einen Dreck interessierte und die kamen ja tatäsächlich rein und brachten die Wärter doppelt in Gefahr getötet zu werden einmal von uns und einmal von ihnen klar daß es da für einen Augenblick eine Solidarität gab zwischen uns und den Wärtern

Nanni Balestrini: Die Unsichtbaren. Roman. Weismann Verlag. Aus dem Italienischen von renate Heimbucher-Bengs, 310 Seiten, 32 Mark

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