Japan: Lebenslange Firmenbindung vor dem Ende?

■ Vor allem Akademiker wechseln schneller / Ausländische Großkonzerne locken

Tokio (dpa) - Das System der lebenslangen Beschäftigung in Japan ist oft als „Zauberschlüssel“ für den steilen wirtschaftlichen Aufschwung in den letzten Jahrzehnten bezeichnet worden. Universitätsabsolventen, 22 oder höchstens 23 Jahre alt, treten in eine Firma ein und werden dort nach ihrer Eignung, weit mehr aber noch nach dem Senioritätsprinzip eingesetzt und befördert, bis sie ihren höchstmöglichen Rang erreicht haben und dann nach wenigen Jahren in Pension geschickt werden. Das ist im mittleren Management oft schon mit 58 Jahren der Fall, in höheren Positionen mit 62 oder 65, während Generaldirektoren oft erst mit 70 oder 75 Jahren ausscheiden.

Die absolute Loyalität zum Unternehmen auf der einen, die Fürsorgepflicht für die Angestellten auf der anderen Seite sind die beiden Seiten dieses Systems, auf das die Japaner stolz sind. Auch in den Krisenzeiten der letzten Jahre, als der kräftig gestiegene Yen-Kurs im Vergleich zum US-Dollar die Exporteinnahmen und -gewinne drastisch sinken ließ, kündigte kaum ein Unternehmen den Mitgliedern seiner Stammbelegschaft. Allerdings wird gern verschwiegen, daß zu diesem Beschäftigungsstamm nur ein relativ kleiner Teil der Gesamtbelegschaft gehört.

Teilzeitbeschäftigten wird beliebig gekündigt, und das weitverzweigte System der Zulieferunternehmen sorgt dafür, daß die Manager der Großkonzerne sich im wirtschaftlichen Abschwung nicht selbst die Hände schmutzig machen müssen. Sie bestellen einfach weniger bei den Subunternehmern, und die Entlassungen finden dann dort statt.

In jüngster Zeit gibt es Alarmrufe - die lebenslange Beschäftigung wird zunehmend in Frage gestellt, und zwar von der Arbeitnehmerseite. Die jungen Leute, die nach ihrer langen und harten Ausbildung in die Arbeitswelt eintreten, sehen das Ideal keineswegs mehr darin, 30 oder 40 Jahre lang morgens dieselbe Firmen-Hymne zu singen, sich jahrelang vor immer demselben Vorgesetzten zu verneigen und darauf zu warten, irgendwann einmal dessen Platz einzunehmen. „Ich möchte das, was ich kann, jetzt zeigen und nicht darauf warten, daß ich es mit 45 tun darf“, sagte ein 27jähriger Bankangestellter als Begründung dafür, daß er seinen Job kündigte und zu einem ausländischen Institut wechselte.

Der schnell fortschreitende Ausbau Tokios zu einem der ganz großen Finanzzentren der Welt ist gerade in dieser Branche Anreiz zum Wechseln. Amerikanische, britische, deutsche und Schweizer Banken hatten vor wenigen Jahren noch außergewöhnliche Schwierigkeiten, fähige junge Japaner einzustellen, die das Geschäft kannten. Inzwischen hat sich herumgesprochen, daß die ausländischen Banken (notgedrungen) sehr gut zahlen und daß sie sichere Jobs für gute Leute bieten. Langsam werden sie auch so bekannt, daß die Schwiegermutter mit Stolz erzählen kann, wo der Mann ihrer Tochter arbeitet. Das Prestige der Anstellung bei einem bekannten Unternehmen ist in Japan weit wichtiger als in den meisten anderen Ländern.

Die Universitätsabsolventen stehen immer noch in langen Schlangen an, wenn weltbekannte Unternehmen zu ihren Einstellungsinterviews einladen. Wer bei Sony, bei Nippon Steel oder bei der Sumitomo-Bank anfangen darf, hat nach allgemeiner Einschätzung schon so etwas wie das große Los gezogen. Aber auch Unternehmen dieser Größenklasse berichten inzwischen, daß ein ganz beträchtlicher Teil der hoffnungsvollen jungen Leute nach drei, nach fünf oder nach zehn Jahren wieder abspringt, wenn es bessere Angebote gibt oder einfach die Erkenntnis dämmert, daß die Karriere zu lange dauern wird, wenn man nicht wechselt.

Ein Universitätsprofessor in Tokio glaubt, daß schon bei der Einstellung die „falschen“ Weichen gestellt werden: „Die Bewerber fragen nicht sorgfältig nach, was sie zu tun haben werden, sondern entscheiden sich einfach nach einem vagen 'Gefühl‘ für ein bestimmtes Unternehmen.“ Viele dieser Kandidaten sind rasch enttäuscht, wenn jahrelang Loyalitätsbeweise das Wichtigste sind, was von ihnen verlangt wird.

Ingenieure gehören zu den Akademikern, die am häufigsten wechseln. Sie haben auf den Hochschulen immer enger werdende Spezialgebiete studiert, werden dann aber dessen ungeachtet da eingesetzt, wo das Unternehmen sie gerade braucht. Wenn sie ein Angebot erhalten, das ihren Fähigkeiten entspricht, sind sie oft schnell zum Absprung bereit. Traditionsbewußte Firmenbosse halten die Entwicklung für den Anfang vom Ende des japanischen Wirtschaftswunders - viele Wirtschaftswissenschaftler aber sind überzeugt, daß die zunehmende Mobilität dem Land bald viel mehr nutzen als schaden könnte.