: Keine Zukunft für Pinochet
■ Der französische Soziologe Alain Touraine zur Situation in Chile nach dem Referendum
Chile kann jetzt nicht zu einem revolutionären Populismus zurückkehren, der die Wirtschaftspolitik der Diktatur mit zivilen Mitteln fortsetzt. Chile muß sich auf raschem Weg in ein modernes Land verwandeln, das heißt: in ein Land mit einem starken technischen und wirtschaftlichen Wachstum und einer soliden sozialen Integration. Der herausragendste Unterschied, der zwischen den neuindustrialisierten Ländern Asiens und den relativ modernen Staaten Lateinamerikas besteht, ist die weit größere Kluft zwischen Arm und Reich bei den letzteren. Und was noch schlimmer ist: Diese Kluft hat sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre nicht nur vergrößert, sondern auch die Fähigkeit zur sozialen Integration in dem Maße verringert, wie die Masse der an den Rand Gedrängten anwuchs.
Die Grundlage der Demokratie ist nicht immer die Verringerung der Ungleichheit, wie das Beispiel Korea zeigt. Aber die größere Gleichheit ist Bedingung für eine wirtschaftliche Entwicklung, ohne die die Demokratie zerbrechlich sein wird.
Mit dem 5.Oktober stellt sich Chile das Problem, wie eine politische Lösung möglichst schnell in Gang zu setzen ist, die einen Kurswechsel erlaubt, ohne den Bruch mit dem Militär herbeizuführen. Denn sein Einfluß hat unter der Regierungszeit Pinochets von Tag zu Tag zugenommen. (...)
Und, was das wichtigste ist, es hat sich keine politische Massenbewegung herausgebildet, die die Diktatur unterstützt. Kann man sich vorstellen, daß Pinochet, der von den Massen abgelehnt wird, mit dem Risiko weiterregiert, daß sich das Militär einer direkten Konfrontation mit der Zivilbevölkerung aussetzt? Es ist folglich das allgemeine Interesse, daß vorher Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abgehalten werden. (...)
Es erscheint jetzt weniger wahrscheinlich, daß Regime und Militär sich zum Widerstand formieren, wie viele Beobachter glauben. Der Sieg des „No“ kann nur zu dem raschen Austausch der Diktatur gegen eine vom Volk gewählte Regierung führen. Diejenigen, die versuchen, die angeschlagene Diktatur zu verlängern, stürzen das Land in bloße Gewalt.
(...) Aber die Sorge um die Zukunft sollte uns nicht ablenken von der Freude und der Trauer, die wir in diesem Moment empfinden. Freude über die wiedererlangte Würde und die wiedererstarkte Freiheit; und Trauer in der Erinnerung an all jene, die den Widerstand gegen die Gewaltherrschaft mit ihrem Leben bezahlt haben. (In Solidarität gekürzt übernommen
aus 'El Pais‘ vom 8.Oktober
Übersetzung: kir/smo
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