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USA: Im Zorn gegen die Verwaltung des Aids-Todes

Jeden Tag sterben in den USA 52 Menschen an Aids / Schwere Vorwürfe gegen die Arzneimittel-Kontrollbehörde FDA / Demonstration in Washington  ■  Aus Washington Stefan Schaaf

Als die DemonstrantInnen im Morgengrauen in kleinen Grüppchen von der Metrostation in Rockville aufbrechen, sind es laut ihrem Transparent genau 42.471. Als die ersten der mehreren hundert ProtestiererInnen knapp zwei Stunden später zu Fuß oder in Polizeibussen das Bürogebäude der US-Food and Drug Administration (FDA) in der Bürostadt vor den Toren Washingtons wieder hinter sich lassen, sind es wahrscheinlich bereits mehr. Gemeint sind die Todesopfer der Aids-Epidemie in den Vereinigten Staaten. 52 Menschen erliegen ihr Tag für Tag zwischen Boston und San Francisco.

„Wir haben Aids in unserem Blutkreislauf, Aids beherrscht unsere Gedanken, AIDS lastet auf unseren Herzen, wir sind hier, weil wir betroffen sind“, sagt John Thomas vom AIDS -Zentrum in Dallas. Die Demonstration am Dienstag morgen, veranstaltet von der „AIDS Coalition To Unleash Power“ (ACT UP), gilt einer Behörde, die in den Augen der von AIDS Betroffenen für die hohe Zahl der Todesopfer ein Stück Mitverantwortung trägt. Manche der 42.471 Aids-Opfer könnten noch am Leben sein, so die Aktivisten von ACT UP, wenn die US-Kontrollbehörde für Arzneimittel mit mehr Druck an der Bewilligung von Medikamenten arbeiten würde, die den Fortschritt der Krankheit verlangsamen können.

Die lärmenden buntgekleideten Menschen, die vor dem Haupteingang der FDA im Kreis marschieren und die Behörde zumindest für diesen Tag lahmlegen wollen, möchte sicherstellen, daß die Angestellten der FDA die Botschaft empfangen. Zornige Fäuste recken sich gegen die glatte Glasfassade, beäugt von einigen Angestellten hoch oben in ihren Büroräumen. Die FDA sei die „Federal Death Administration“ (Todes-Verwaltung) ist auf einem Plakat zu lesen. Die Reagan-Administration habe „Blut an den Händen“, so die Aussage auf einigen T-Shirts.

Die Medikamente, um die es den Aktivisten geht, haben sie mitgebracht, einige werden sogar an Ort und Stelle verkauft. Ein junger Mann bietet Dextra-Sulfat an, ein in Japan rezeptfrei erhältliches Mittel zur „Blutverdünnung“. Mehrere tausend Aids-Betroffene benutzen es in den USA, sagt er, obwohl es aus Japan eingeschmuggelt werden muß. ACT UP nennt neun weitere Medikamente, die sofort von der FDA freigegeben werden sollten. Alle weisen weniger schädliche Nebenwirkungen auf als AZT, der einzige bisher von der FDA freigegebene Wirkstoff. Gegenwärtig dauert es acht Jahre, bis die FDA ein neues Medikament für den Markt freigibt, also viermal so lang wie die Lebenserwartung eines HIV -infizierten Mannes.

Man wolle nicht, daß die FDA ihre Sorgfalt generell fallen lasse, meint der New Yorker Aids-Kranke und ACT UP-Aktivist Vito Russo: „Wir wollen nicht, daß die FDA gefährliche Medikamente freigibt, aber sie soll den Prozeß so weit wie möglich beschleunigen.“ Schwer erkrankte Patienten, so ACT UP, sollten in Absprache mit ihren Ärzten die experimentellen Arzneimittel erhalten können. Nach einer Stunde ist das heutige Ziel von ACT UP erreicht und alle Eingänge des Gebäudes sind blockiert; die Polizei beginnt mit den Festnahmen. 105 der DemonstrantInnen werden bis zum späten Morgen in Polizeigewahrsam genommen.

AIDS hat den Kalender der US-Bundeshauptstadt in den letzten drei Tagen beherrscht, vor allem durch die Präsenz des „Names Projects“ und ihres fünf Fußballfelder großen Quilts, der am Samstag und Sonntag auf dem Parkgelände unmittelbar vor dem Weißen Haus ausgestellt war. Mehr als 8.200 Namen, jeder auf einem knapp zwei Quadratmeter großen, von den Angehörigen gestalteten Stück Stoff, sind in diesem Textil-Mahnmal verwoben. Der Quilt ist seit dem letzten Herbst durch zwanzig Städte in den Vereinigten Staaten gewandert, als drastische Verdeutlichung des Leids und der Trauer, die der Verlust von mehreren zehntausend Leben ausgelöst hat.

Markus Faigle, der seit drei Monaten als Freiwilliger in der Zentrale des Names Projects in San Francisco arbeitet, macht sich über die Wahrnehmung des Projekts Sorgen. „Ich höre oft, es sei doch unpolitisch und drücke nur auf die Tränendrüse, typisch amerikanisch eben.“ Er findet, dies tue den beiden Hauptzielen des Names Projects unrecht: „Da ist zum einen der aufklärerische Effekt“, den der Quilt auf diejenigen hat, die Aids und Homosexualität als Probleme von Randgruppen abgetan haben. Jedes Segment des gigantischen Flickenteppichs steht für ein Individuum, „jedes sagt mehr als hundert Seiten in einem Buch“, meint er. Zum anderen habe die Herstellung des Quilts und seiner Einzelteile eine therapeutische Funktion für die Freunde und Angehörigen der Aids-Opfer.

Das Names Project bezieht sie in eine Gemeinschaft ein: es besteht aus 16 festangestellten MitarbeiterInnen in San Francisco und mehreren tausend Freiwilligen im ganzen Land. Allein, um den Quilt zwei Tage lang in Washington auszustellen, wurden 4.000 Freiwillige benötigt, die aus dem ganzen Land herbeigeholt wurden.

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