: Romantiker vorn bei Alter Musik
■ 4. Konzert beim Festival für Alte Musik: Harald Vogel spielte auf dem Clavichord in der Ostkrypta des Doms und der taz-Kritiker rezensierte vor allem für Eingeweihte
Die Musik des 18. Jahrhunderts verlangt den vollen subjektiven Einsatz der MusikerInnen. Wer sich selbst heraushalten will, spielt garantiert am Stück vorbei. Noch vor dreißig Jahren allerdings progagierten die Vertreter historischer Aufführungen mit ihren „Originalinstumenten“ einen ihrer Meinung nach „sachlichen“ Musizierstil gegen die subjektive Willkür von Interpreten aus der romantischen Schule. Heute haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Die Fachleute für Alte Musik erweisen sich als die wahren Romantiker, während viele Interpreten auf den modernen Instrumenten „objektiv“ spielen, d.h. am Ideal der Nähmaschine orientiert.
Harald Vogel, Dozent der Akademie für Alte Musik Bremen, beschränkt sich nicht nur auf die in der Fachszene approbierten Gestaltungsmittel, er schreckt auch vor den romantischen Rubato-Temposchwankungen und überraschenden dy
namischen Effekten nicht zurück. Sein Clavichordspiel überzeugt vor allem dort, wo die Musik den Verlauf, die Entwicklung und abrupte Veränderung von gefühlen nachzeichnet. Bei Johann Sebastian Bachs allbekanntem Präludium C-Dur aus dem 1. Teil des Wohltemperierten Claviers erschien mir das ständige Gestaltenwollen manchmal als etwas maniriert und von falschem Pathos erfüllt. Anders schon die beiden Präludien (F-Dur und f-moll) aus dem 2. Teil. Bachs Kompositionen nehmen - entgegen der Legende , Bach habe sein Spätwerk in einer Art splendid isolation geschaffen - deutlich Bezug auf die aktuellen Tendenzen des empfindsamen Stils. Die zarten Themen verlangen nach einer das Gefühl nicht scheuenden Wiedergabe.
Vollends angemessen ist solche Interpretation der abrupt von einer Emotion zur anderen springendem, die Regeln runder „klassischer“ Formgestaltung
gezielt verletzenden Musik Carl Philipp Emanuel Bachs. Ein Vergleich der Haltung Vogels und der von Ludger Remy, der am Sonntag in der gleichen Reihe Musik des Jubilars (200. Todestag) auf dem Hammerflügel spielte, bietet sich an: Wo Remy die ohnehin schroffen Charaktere noch weiter übertreibt, tendiert Vogel zur ausgleichenden Verdeutlichung. Wenn Bach ein plötzliches Abreißen der Musik komponiert, so stürzte sich Ludger Remy Hals über Kopf hinein, das Ende sogar noch beschleunigend, während Harald Vogel eher die kommende Überraschung durch ein Nachgeben im Tempo vorankündigt. Beide Haltungen sind möglich: Bei Remy besteht die Gefahr, im Wirren die Logik der Gefühle völlig zu verlieren, während bei Vogel die Stärke ihre schockierenden Qualitäten einbüßen können. Carl Philipp Emanuel würde zum postumen Klassiker umdeklariert.
Axel Weidenfeld
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