Provinzielle Langeweile-betr.: "Tübingen - Nekropolis des Südens", taz vom 8.10.88

betr.: „Tübingen - Nekropolis des Südens“, taz vom 8.10.88

Köstlich der Bericht über die provinzielle Langeweile, einfach köstlich! Vernarrt in die toten Dichter und Denker, wie ich nun einmal bin, habe ich der Stadt Tübingen vorgeschlagen, zur Erinnerung an einen weiteren, bisher unbekannten toten Helden doch eine Gedenktafel anzubringen vor der Wohnung desselbigen, versehen mit der Aufschrift:

„Hier wohnte Ambrosius F.Pawlowitsch, der größte Söhn unserer Stadt, der jahrelang vom Manna lebte, Dichter, Prediger und Philosoph, Student, ein Mann der Tat, zuletzt Wüstling, Frauenhasser und Bürgerschreck, der schließlich selbst verblödete und darob zu Tode erschrak. Sein irres Lachen weht noch heute durch unsere Stadtmauern.“

All das ist nachzulesen in den Analen der Stadtchronik vom Jahre des Herrn und so warte ich gespannt auf die Antwort der Stadtverwaltung gegenüber meinem Vorschlag. Eine tiefe Verehrerin desselben.

Jule Wiegan, Plochingen

Der bis zur Hälfte recht gute Artikel enthält im letzten Satz einen Irrtum. Es heißt dort: „Den ersten Platz“ (als langweiligste Stadt Deutschlands!) „belegt immer noch Münster in Westfalen.“ „Du als junger Mensch“, Karl, hast Pech und so haben wir „dich echt am Arsch“, denn, obwohl nachts die „Bordsteine hochgeklappt“ werden, läuft dort sehr viel mehr Spannendes, als du mitbekommen hast.

Peter Visolp, Berlin 44

(...)Wenn mich dieser drittklassige, journalistische Nonsens nicht so abgrundtief anwidern würde, wäre es ein Leichtes für mich, der ich lange in dieser Stadt gelebt habe, die oberflächlich-diffamierenden Feststellungen des Herrn Wegmann zu widerlegen, eine andere mögliche, vor allem aber differenzierte Sichtweise darzustellen. Aber nicht einmal dazu provoziert mich diese polemische Schreibe, nein, ich würde mir lieber eigenhändig die Finger brechen, bevor ich auch nur einen Buchstaben dieses Schwachsinns zitiere.

Jede/r, die/der sich mit offenen Augen und Ohren dieser Stadt widmet, wird interessantere und mit Sicherheit weniger frustrierende Erfahrungen machen, als Karl Wegmann (und ich kann das jedem/r LeserIn dieser Zeilen nur wärmstens empfehlen!). (...)Eberhard Neu, Hamburg 4

(...)Merkst du nicht, wie du in die immer selben Klischeekerben immer wieder von neuem reinhaust? Du zerpflückst die Oberfläche und gehst dir selber immer wieder auf den Leim. Du Städtekenner, der seine Karten verdeckt spielt und leitende Gesichtspunkte und Erfahrungen für sich behält (wenn's sie gibt), bringst keinen Satz zu Ende ohne zynischen Seiten-rund-schlag. Sloterdijk läßt vielmals grüßen.

(...)Du weißt, wo's lang geht, interessierst dich nicht für die Unterstadt und das „andere Tübingen jenseits der Klischees“. Du findest dort als einzig wahren Ort treffsicher: das Theater!

Von Ernst Bloch 'nen Halbsatz als Überleitungsgag zu Robert, von zahlreichen kultur-sozial-politischen Initiativen, die gerade in dieser so traditionsbewußten Stadt erhebliche (Gegen- und Eigen-Dynamik entwickeln und in dieser überschaubaren Stadt auch auffindbar sind, bei dir keine Rede. Zu grün? Nur harmlos?

Was macht eine Stadt eigentlich wirklich? Autobahnen, Fabriken, Anonymität, Lärm, Smog? Haß und Hast? - Wirklich? Und die Leute?!

Hast dich wahrscheinlich auch nie hingesetzt auf einen dieser „scheiß-beschaulichen“ Plätze am Markt, nur das Photo geschossen! Mit einheimischen „Gogen“ sprichste ja eh nicht, magst wahrscheinlich auch nicht den Dialekt, den du u.a. auch nicht verstehst?

Du mußt ja weiter, zur nächsten „Städtereportage“, hast keine Zeit, den Leuten in den Gassen zuzuhören, und Wichtigeres zu tun, als für dich und die LeserInnen nachzuvollziehen, wer-wie-wieso in so'ner Stadt lebt und kämpft oder eben nicht.

Es ist dir das passiert, was du bei Städten am wenigsten ausstehen kannst, du Listenabhaker: Du langweilst.

Michael J. Rainer, Münster