: Der Staat hat sein Ideologie-Monopol verloren
Baber Johansen, Islamwissenschaftler und Algerienspezialist, über den Hintergrund der Revolte in Algerien ■ I N T E R V I E W
taz: Haben Sie die Unruhen der letzten Wochen überrascht?
Baber Johansen: Ja, das Ausmaß und die Schärfe der Unruhen haben mich überrascht. Es ist bekannt, daß es in den letzten Jahren andere Unruhen gegeben hat. Ebenfalls ist mir - wie vielen anderen - bei Besuchen und bei Diskussionen deutlich geworden, daß es verschärfte Meinungsunterschiede und Frontstellungen gegeben hat.
Sehen Sie bei den Unruhen in Algerien Parallelen zu den Brotunruhen in Tunesien und Marokko?
Ganz deutlich, es geht um Unruhen, in denen sich die Bevölkerung gegen die Verteuerung der Grundnahrungsmittel, der Wohnungen, der Lebenshaltungskosten wehrt und den Staat dafür in die Verantwortung nimmt, daß er der großen Mehrheit der Bevölkerung das Überleben auf einem menschenwürdigen Niveau ermöglicht. Das leistet der Staat nicht mehr wegen der Außenabhängigkeit und der mangelnden Steuerungskapazitäten des Staates im ökonomischen Bereich.
Ait Ahmed, einer der Gründer der FLN meinte, daß allein eine Demokratisierung verhindern könne, daß Algerien zum kranken Mann des südlichen Mittelmeeres wird. Stimmen Sie dem zu?
Die Demokratisierung ist sicherlich für viele Länder der südlichen Mittelmeerküste die politische Bedingung dafür, daß überhaupt gesellschaftliche Probleme mit einem gewissen Maß an gesellschaftlichen Konsensus gelöst werden können. Insofern ist die Demokratisierung ein allgemeines Problem; sie steht genauso in Tunesien, Ägypten oder den anderen nordafrikanischen Ländern auf der Tagesordnung. Auf der anderen Seite sehe ich nicht, wie allein die Demokratisierung die Probleme lösen kann. Es gibt Probleme der Industrialisierung, der Regionalplanung, der ökonomischen Außenabhängigkeit gegenüber Europa und den USA, es geht um Anpassungsschwierigkeiten im kulturellen Bereich. In allen diesen Bereichen gibt es Zwänge, die objektiver Natur sind und nicht allein durch die Demokratisierungsprozeß gelöst werden können.
Welchen Freiraum für politische Opposition läßt das algerische System zu und welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die islamischen Integristen?
Es gibt eine allgemeine Tendenz in Nordafrika, dem Staat zwar die Kontrolle des organisierten politischen Lebens zu belassen, ihn aber von seinem ideologischen Monopolanspruch abzulösen. Dem Staat wird sein Anspruch als alleiniger ideologischer Sprecher der Bevölkerung streitig gemacht. Diesen Prozeß kann man in Ägypten und Tunesien beobachten, und jetzt auch - zumindest partiell - in Algerien. Der Staat läßt also zunehmend zu, daß sich im intellektuellen Bereich islamische, spezialistische und andere Gruppen artikulieren. Andererseits behält sich der Staat ganz deutlich und verschärft ein Kontrollrecht über die organisierten Formen des politischen und religiösen Lebens vor. So behält sich der Staat ein Monopol bei der Zulassung von Moscheen vor. Mit dieser staatlichen Kontrolle des organisierten politischen Lebens sind allerdings nicht alle Gruppen gleichermaßen einverstanden.
Kann man davon ausgehen, daß mit diesen Unruhen der im Unabhängigkeitskrieg gewachsene nationale Konsens aufgekündigt wird?
Daß gewisse Gruppen sich auf den Islam beziehen und nicht mehr auf die Nation, ist sicherlich ein wichtiges Zeichen dafür, daß die Berufung auf die Nation allein nicht mehr ausreicht, Konsens zu schaffen. Es scheint mir auch deutlich zu werden, daß die islamistischen Gruppierungen einen Anspruch auf die Verwaltung der religiösen Traditonen erheben, das heißt auch auf die Fragen der moralischen Legitimation ökonomischen und politischen Verhaltens.
Interview: Stephan Trudewind
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