: Wo liegt die Sowjetunion?
■ Besuchs-Delegation aus der Ukraine zog höfliche Bilanz / Austausch soll erstmals in der BRD auf Stahlarbeiter und „einfache“ Jugendliche ausgedehnt werden
Sie sind sehr höfliche Menschen, die Gäste des Landesjugendrings aus der Ukraine, und auf ihrer Bilanz -Pressekonferenz fanden sie denn zunächst auch fast nur lobende Worte über ihren Besuch in Bremen. So stellte der Delegationsleiter und Komsomol-Sekretär Jurij Sokolov fest: „Das Programm wurde völlig erfüllt. Wir sind zufrieden mit diesem Besuch am Vorabend der Reise von Bundeskanzler Kohl in die Sowjetunion.“ In Nebensätzen teilten einige Ukrainer dann doch auch negative und zum teil erschrek-kende Reise -Eindrücke über dieses 12. Austausch-„Treffen der Jugend“ mit: Der Delegationsleiter beispielsweise erzählte von seinen Erfahrungen mit Bremer Jugendlichen: „Die deutsche Jugend weiß recht wenig über das Leben in der Sowjetunion. Viele können unser Land nicht auf einer Landkarte finden.“
An dieser Unkenntnis wollen der Landesjugendring und die Gäste aus der Ukraine im Zeitalter der
Perestroika einiges ändern.
In der ukrainischen Delegation, die vereinbarungsgemäß aus „Fachkräften der Jugendarbeit“ besteht, waren denn auch auch so gestandene Männer dabei, wie drei Arbeiter und Angestellte des Stahlkombinats „Saporoshje“ und drei Mitarbeiter des staatlichen Jugend-Reisunternehmens „Sputnik“, die alle sechs sich erfolgreich bemühten, dem Austausch zwischen der Ukraine und Bremen zusätzliche Bevölkerungskreise zu öffnen.
Diese sechs Herren unterschrieben zwei richtungsweisende „Absichtsserklärungen“: Erstens, und dies ist einmalig in der BRD, einigten sich der Betriebsrat der Klöckner Werke und die Vertreter von „Saporoshjestahl“ darauf, Belegschafts -Delegationen auszutauschen. Bisher ist eine solche Reisetätigkeit dem Vorstand der IG-Metall auf bundesdeutscher und dem sowjetischen Metallarbeiterverband auf ukrainischer Seite vorbehalten. Horst
Meyerholz vom Klöckner-Bet riebsrat dankte denn auch dem Landesjugendring und seiner ukrainischen Partnerorganisation dafür, daß sie durch ihre mittlerweile 13jährigen Beziehungen die Brücke für die neuen Basis-Beziehungen gebaut hatten.
Außerdem vereinbarte die Bremen-Norder Jugendbildungsstätte „Lidice-Haus“ mit den Vertretern des sowjetischen Reisebüros „Sputnik“, den Austausch von der Ebene der Jugendfunktionäre auch auf die der „einfachen“ Jugendlichen zwischen 17 und 30 Jahren zu verlagern. Bereits im April 89 werden jeweils 40 Jugendliche aus Bremen und 40 Jugendliche aus der Ukraine in einen einwöchigen devisenlosen Austausch treten. Rund 500 Mark kostet die Fahrt für die Jugendlichen, inklusive einem Taschengeld von 40 Rubel. Die Aprilfahrt ist bereits voll ausgebucht mit Bremer SchülerInnen, für die Reise im September sind jedoch noch Plätze frei. Mehr als zwei
Bremer Jugend-Gruppen pro Jahr sollen nicht hinfahren, denn so der Leiter des Lidice-Hauses: „Wir sind kein Reisebüro“.
Im Zuge der Perestroika hat der Dachverband der ukrainischen Jugendorganisationen auch „informelle“ Jugendgruppen, die in den Bereichen Ökologie und Denkmalschutz arbeiten, als Neu -Mitglieder aufgenommen. Jugend-Funktionär Igor Setschkin stellte daher in Aussicht, daß künftig auch Umweltschutzgruppen aus der Ukraine und aus Bremen in einen direkten Austausch eintreten können. Sogar die Bremer CDU, so Delegationsmitglied Alexander Sisko, habe angeregt, ihre „Junge Union“ in den Austausch miteinzubeziehen.
Barbara Debus
Heute abend findet ab 19 Uhr im Lidice-Haus das Abschlußtreffen der bremisch-ukrainischen Jugend und Jugendfunktionäre statt. Gäste sind willkomen. (Auf dem Hohen Ufer 124, Bremen-St. Magnus)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen