: VERFALLSZEITPROSA
■ Beobachtungen im „Industriegebiet der Intelligenz“
Die Ausstellung im Literaturhaus zum literarischen neuen Westen Berlins hat seit zwei Wochen geöffnet, und seither zieht im Rahmenprogramm die Kulturkarawane der Kommentatoren, von Kritikern und Zauberkünstlern der historischen Erinnerung, Conferenciers der Literaturwelt, Mythomanen und Orakeldeuter der literarischen Quellen und Spurenleser der Quellenlandschaften übers Parkett der Räume in der Fasanenstraße und versorgt, begleitet von Reanimateuren und Rezitatoren verlorener Stimmen, das geistersehende Publikum mit Stoffen aus der Produktionssphäre der Intelligenz und trägt Erleuchtung in die Weimarer Dämmerzeit.
Blaue Chinesen wie Franz Hessel nickten weise neben kunstseidigen Damen, Girls und Frauen, geniale Boxer schlugen zu und schlagkräftige Künstler landeten den großen Coup, Kältemaschinen der Intelligenz öffneten dem neugierigen Blick die Gehirnfrostzellen und zwischendurch ging die Metropole Berlin, in der dem Neuen Westen ein schnelles Verfallsdatum beschieden war, auch schon einmal verloren. Ohne Walter Benjamins direkt für die Nachwelt geschriebene Zitate kommt kaum eine Illustration aus der Weimarer Zeit aus, er ist der heimliche Herrscher des Neuen Westens im Nachweltblick, und so wurde aus ihm ja doch noch etwas, wenn auch kein deutscher Professor.
Industriegebiete aber zeichnen sich durch unentwegte Tätigkeit aus. Der Ausstoß geistiger Waren ist beträchtlich, manchmal sind zwar Attrappen darunter, aber meistens solide Halbfabrikate und gute Handelsware, nur Spitzenprodukte sind rar, was Wunder, wo doch jeder Gedanke übers Weimarer Berlin mindestens zweimal gedacht wurde und wenigstens drei Fußnoten besitzt. Das Kulturplansoll wird auf jeden Fall erfüllt werden und das Bruttosozialprodukt der Intelligenz steigen.
Forschende Jugend
Eine Überraschung bot der Forschernachwuchs der Germanistik, der sich am Mittwoch abend unter Obhut seines Professors und mit Unterstützung einer Rezitatorin aufgemacht hatte, die verlorene Metropole Berlin in der Literatur wiederzufinden. Die vier Romane aus den ersten Jahren der Dreißiger, als die politökonomische Krise der Weimarer Republik mit voller Wucht in die Literatur einschlug, waren klug an den ausgetretenen Wegen zu den Standardwerken vorbei gewählt. Zwei von ihnen sind bisher so gut wie unbekannt geblieben: Paul Westheims „Heil Kadlatz! Der Lebensweg eines alten Kämpfers“, 1977 einmal wiederveröffentlicht, aber längst wieder vergriffen und in kaum einer Bibliothek präsent. Westheim war Kunst- und Architekturkritiker und ist vielleicht noch als Herausgeber des 'Kunstblatt‘ bekannt. Daß er einen Roman ganz schnörkellos den Aufstieg der Nazis erzählen ließ und frühzeitig das Portrait Hitlers mit seinen politischen Strategien in einer kleinen Philosophie des deutschen Bouillonwürfels entwarf, der sich als Nahrung verkaufen läßt, wenn er sich auch zubereitet braun in dünne Suppe auflöst, war nicht weniger erstaunlich als der Umstand, daß Bernhard Diebold, Feuilletonredakteur und Theaterkritiker der 'Frankfurter Zeitung‘, einen Berlin-Roman „Reich ohne Mitte“ schrieb.
Zur Aufgabe hatte sich die forschende Jugend gesetzt, die verlorene Metropole in Romanen sichtbar zu machen, die noch vor der Distanz durchs Exil den Untergang Berlins diagnostizierten, und wenn auch Döblins Roman „Pardon wird nicht gegeben“ das erste Exilwerk Döblins war, trifft sein dritter Teil, „Krise“ überschrieben, diesen dumpf-elenden Untergang der glorifizierten Metropole mitten in ihr unters Braunhemd und in Richtung Kommißstiefel gerutschtes Herz. Wenn das Rahmenprogramm sich oft genug am Oberflächentalmi des Metropolenschillerns delektierte, dann waren die jungen Forschungsblicke ins ohne große ästhetische Umwege ausgemalte Grau und Braun der Stadt exakt der Gegenmittel gegen jene Sorte allgegenwärtiger und allmächtiger Berliner Kulissenschieber, die das Katzenjammergold der Phrasen auf jedem kruden Faktum auflegen.
Im Diplomatengepäck
Niemand braucht heute mehr zu fürchten, nach den Vorträgen des Wissens in jenem Ritual der Peinlichkeit schmoren zu müssen, das im lustlosen Austausch kluger Frauen und ebenso kluger Antworten besteht. Das Kreuzfeuer der Diskussion ist auf öffentlichen Veranstaltungen erloschen. Die Intellektuellen gehen fraglos nach Hause, wohin eventuell aufgekommene Fragen tapfer mitgetragen werden. Dafür bekommen sie auch nicht mehr kunstlose Wissenssalven aufgebrannt, sondern werden mit temperierten Gesamtkunstvorträgen vollversorgt.
Eines dieser Teflon-Abenteuer für die Intelligenz gab es am Donnerstag zu erleben. Wieder warteten dabei zwei Überraschungen, denn weder die Berlin-Bilder von Chas -Laborde, die auf die Leinwand projiziert wurden, noch die Berliner Skizzen „Straßen und Gesichter“ von Jean Giroudoux sind bisher bekannt geworden, die Friederike Hassauer und Peter Roos zu diesen Bilderfolgen vorlasen. Die Texte von Giraudoux, der seit 1906 immer wieder für längere Zeit in Berlin lebte und als Diplomat eine ziemlich weltläufige Existenz führte, sind 1930 veröffentlicht worden, bisher aber nicht übersetzt worden. Erst jetzt hat der Greno-Verlag in einer schönen, aber ziemlich unerschwinglichen Ausgabe sie muß direkt für den kreditkartengespickten bibliophilen Luxusmenschen gemacht worden sein - die deutsche Übersetzung herausgebracht, in der sich die Texte von Giraudoux und Chas -Labordes kolorierte Radierungen gegenseitig kommentieren.
Diese schriftbildliche Pariser Doppelperspektive auf das krisengeladene Berlin der ausgehenden zwanziger Jahre ist eine große Ausnahme, wo das europäische Hochkulturzentrum Paris sich doch meistens um sich selbst drehte und der französische Blick auf die ganz anders, nämlich eher subkulturell wirbelnde Konkurrenzstadt Berlin, wenn überhaupt, so nur mit leicht abfällig hochgezogenen Brauen fiel. Gewiß, Andre Gide und einige andere französische Literaten wurden in den zwanziger Jahren zunehmend von Berlin angezogen, doch der umgekehrte Magnetismus von Paris für deutsche Intellektuelle blieb das Gesetz der Zeit.
Giraudoux‘ „Straßen und Gesichter“ sind Beobachtungens- und Reflexionsschübe eines Prosaisten, der ohne homogene Erzählform sich den Oberflächen und Bewegungen im Stadtkosmos überläßt und dabei zwischen den Rollen des Auslandskorrespondenten, Raisonneurs, des Diplomaten auf vorgeschobenem Posten und des Ethnologen wechselt. Die Distanz des Ausländers verschärft seinen Blick auf das Berliner Eingeborenenleben, und ob er Bars „als zoologische Gärten im Großstadtdschungel“ besichtigt, „Homosexualität in Deutschland als Produkt der Gemütlichkeit“ beschreibt oder sich der „Kleinbürgerei zwischen Schillervers und Pökelfleisch, Prostitution und Barbesuch auf teutonische Art“ zuwendet: Seine Visiten Berlins sind messerscharf und ohne jede herangereisten Fremden so schnell über die Lippen kommende Verklärung. Vor allem fehlt der leicht abgestandende Ton einer Heimatseligkeit, wie ihn gerade die permanente Selbstinszenierung Berlins so gerne zelebriert.
Dagegen fallen die Stadtportraits von Chas-Laborde - fünf von ihnen sind in der Ausstellung zu sehen - gegen die Dämonie von Giroudoux stark ins Harmlose ab. In seiner Technik weist er zwar Ähnlichkeiten zu George Grosz auf, aber das Fehlen von Nähe zu Berlin, das Giraudoux‘ Ton so sehr schärft, wirkt sich bei ihm als Mangel der Haßliebe zu den Typen und Gestalten auf den Straßen aus, die bei Grosz zu den Verzerrungen alptraumhafter Tagträume führte und dabei zum Originalausdruck der Berliner Visage kam. Daß Chas -Laborde ein „lächelnder Karikaturist“ war, stimmt so sehr, wie ein Mißverständnis ist, Grosz habe nur ein Programm gemalt, während sich Chas-Laborde auf die Straßen und Gesichter eingelassen habe.
Ferne Wortfetzen
Es gibt zuviel prometheische Scham. Am Freitag abend sorgte sie bei Helmut Lethens metaphorischen Exerzitien um die „Kältemaschinen der Intelligenz“ dafür, daß die bis in den Flur Schlangestehenden nicht auch mit den beiden ersten Dritteln dieses Denkeishockeyspiels mit den Attitüden der Sachlichkeit versorgt wurden. Es war sehr voll, wer läßt sich schon gern eine Sektion von Attitüden entgehen, die in der vollverglasten und stahlrohrgestützten Gegenwartszeit liegen. Das Literaturhaus ist reichlich mit Lautsprechern verdrahtet, aber das technische Niveau erzeugt die prometheische Scham, einen Schalter zu betätigen und aus den Wortfetzen aus dem Saal, synkopiert von Stahlrohrmöbelklappern und nervös sich tummelndem und lümmelndem Publikum im Flur, einen Redefluß zu machen. Erst zum letzten Drittel drang Lethens Redefluß ungehindert auch vor die Tür, denn irgendein Genieblitz hatte den Schalter gefunden und die Scham besiegt, ihn zu betätigen. Nun ist es aber zu spät, der Eiskanalfahrt der Kältefreaks durch die Geschichte zwischen Eiszeit und Stalingrad zu folgen, auf einer Scholle treibt man zuhörend durch die Welt der kühl -sachlichen Intelligenz, die nur noch aus Fragmenten besteht und nirgends mehr hinführt. Wenn die Realität auf der Höhe ihrer Technik angekommen ist, wird vielleicht auch die Reflexion über die neusachlichen Kältetechniker der Intelligenz vom Wortfetzendasein erlöst und verständlich, warum die Attitüden der Sachlichkeit, nachdem sie lange kalten Blicks die Zwanziger-Jahre-Welt musterten, schließlich vor dem „stechenden Blick“ erschrecken mußten, der aus den dreißiger Jahren zurückkam, um sie in den vierzigern Jahren in die Kältemaschine Stalingrads zu treiben. Den weiteren Veranstaltungen sei großer Andrang gewünscht, den Veranstaltern weniger prometheische Scham.
Uwe Pralle
Jeweils 20 Uhr, Literaturhaus, Fasanenstraße 23, 1-15.
Dienstag, 18.10., „Tagebuch einer Verlorenen“, Stummfilmm, 1929, von G.W. Pabst.
Donnerstag, 20.10., „Berliner Rundfunk um 1930“, Vortrag mit Hörbeispielen von Hanspeter Krüger und Marianne Weil.
Freitag, 21.10., „Die Angestellten“, Vortrag für drei Sprecher von M. Rutschky.
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