Die Schatten der Vergangenheit

■ Eine „Große Koalition“ in Kiel möchte in der „Barschel-Affäre“ nicht mehr rühren

Seit einem knappen halben Jahr herrscht im Land zwischen Nord- und Ostsee wieder Ruhe. Regierung und Opposition, gewöhnlich ja nicht auf Harmonie angelegt, sind sich in einem Punkt völlig einig: Skandale, vor allem solche die geeignet sind, die Barschel-Affäre noch einmal aufzurühren, können wir nicht brauchen. Beide Parteien halten ein Dokument für falsch, das den Wunsch nach Ruhe erheblich beeinträchtigen könnte. Es geht um einen Brief, datiert vom 3. Oktober letzten Jahres, den angeblich Uwe Barschel an Gerhardt Stoltenberg geschrieben hat und in dem er dem CDU -Landesvorsitzenden eine Mitschuld an der gesamten Affäre vorwirft.

„Es ist eine Fälschung“, lächelt Bernd Sanders, Sprecher des schleswig-holsteinischen CDU-Landesvorsitzenden Stoltenberg über seine Kaffeetasse hinweg. „Eine plumpe Fälschung“, meint auch Engholm-Sprecher Herbert Wessels beim Mittagessen in der Kantine des Landeshauses. „Sie verschwenden Ihre Zeit“, heißt es unisono aus der Fraktionsspitze der SPD im schleswig-holsteinischen Landtag. Zwischen Siegern und Verlierern der Barschel-Affäre herrscht Einigkeit: „Da ist nichts dran. Da machen wir nichts draus.“

Ob etwas dran ist oder nicht, kann derzeit niemand entscheiden. Dennoch laufen in und um Kiel seit Wochen die Drähte zwischen einigen Redaktionen und den Akteuren des damaligen Skandals heiß. Es geht um ein vierseitiges Papier, das seit spätestens Anfang Mai kursiert und immerhin schon Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen im Anschluß an eine vorsorgliche Strafanzeige der CDU-Spitze gegen seine Verfasser und Verbreiter ist. Es handelt sich um die Kopie eines - echten oder gefälschten? - Briefes des am 11. Oktober in seinem Genfer Hotelzimmer tot aufgefundenen ehemaligen Kieler Ministerpräsidenten Uwe Barschel an den Vorsitzenden des schleswig-holsteinischen CDU -Landesverbandes, Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg.

Der Brief ist vom 3. Oktober 1987 datiert, einen Tag nach der konstituierenden Sitzung des im September neugewählten Landtags, auf der die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Sachen Barschel-Affäre beschlossen wurde. Ein Blick in das Dokument macht klar: sein Inhalt muß der CDU höchst unangenehm sein.

Es enthält schwere Vorwürfe gegen den Adressaten Gerhard Stoltenberg, der nie müde wurde, jegliche Kenntnis der „dirty tricks“ seines früheren Ministerpräsidenten Barschel zu bestreiten. „Deprimiert“ äußert sich der Verfasser über die „Vorverurteilung“ des Parteichefs, sei er doch überzeugt gewesen, daß ihn die Partei „nicht hängen lassen“ werde. Stoltenberg habe gefordert, einen Machtwechsel in Schleswig -Holstein aus bundes- und landespolitischen Gründen zu verhindern. In dem Brief wird Stoltenberg beschuldigt, die einzelnen Aktivitäten gegen den politischen Gegner gebilligt zu haben.

Gleichwohl bietet der Schreiber an, die „Alleinschuld“ auf sich zu laden und „gegebenenfalls im Ausland zu bleiben“. Voraussetzung dafür sei eine „Existenzsicherung“ für ihn und seine Familie. Diese Bitte unterstreicht der Schreiber mit der Drohung, er werde, „wenn notwendig“, Staatssekretär Knack aus dem Innenministerium vor den Untersuchungsausschuß laden lassen. „Ich bin sicher, daß er nicht zögern wird, sein Wissen offenzulegen“, heißt es weiter.

Der Mann, einer der Mächtigsten im Regierungsapparat des Uwe B. kann zur Aufhellung dieser Briefpassage nichts mehr beitragen. Staatssekretär Hans-Joachim Knack brach, kaum hatte er am 9. November 1987 die Aufforderung erhalten, zum zweiten Mal vor dem Untersuchungsausschuß auszusagen, mit Herzversagen tot in seinem Amtszimmer zusammen. Und auch Uwe Barschel selbst hat nicht nur dieses Geheimnis mit in den Tod genommen.

Ein Brief nimmt seinen Weg

„Hoffentlich geht die Bombe nicht vor der Wahl hoch“, dachte ein CDU-Politiker, als er Ende April dieses Jahres erstmals von dem Brief hörte. Wann das Dokument tatsächlich in Umlauf kam, ist nicht völlig geklärt. Es gibt Hinweise darauf, daß es zumindest einigen sozialdemokratischen Mitgliedern des Untersuchungsausschusses schon Ende letzten Jahres vorgelegen hat. Gegenstand der offiziellen Beratungen im Ausschuß ist es jedenfalls nicht geworden. Eineinhalb Wochen vor der Landtagswahl am 8.Mai tauchten dann mehrere Kopien in Kiel auf. Die CDU will durch Recherchen des 'Spiegel‘ „aufmerksam“ geworden sein, berichtet Pressesprecher Sanders.

Die Parteizentrale handelte umgehend. Ein politischer Beobachter erinnert sich daran, daß die CDU bereits am 29. April auf Wahlveranstaltungen trommelte, der 'Spiegel‘ plane wieder, wie schon im Herbst 1987, eine gemeine Veröffentlichung. Fakt ist, daß Stoltenberg am 4.Mai bei der Chefredaktion des 'Spiegel‘ schriftlich intervenierte. Ungefragt dementierte der Minister den Inhalt des angeblichen Barschel-Briefes als „völlig abwegig“. Am folgenden Tag erstatteten der CDU-Landesverband und ihr Vorsitzender Anzeige gegen einen unbekannten „Verfasser und Verbreiter der Fälschung“.

Barschel, so die CDU, habe damals (am 3. Oktober) noch gar nicht davon wissen können, daß die CDU ihn fallenlasse. Und im übrigen habe er zu jener Zeit alle Briefe mit Hand geschrieben. Da er selbst auf der Schreibmaschine ungeübt gewesen sei, müsse der Brief, wenn er echt sein sollte, von einer seiner Sekretärinnen getippt worden sein. Eine Befragung habe aber ergeben, daß dies nicht der Fall gewesen sei. Im übrigen, so wird bei der CDU vermutet, sei der Brief - eineinhalb Wochen vor der zweiten Landtagswahl vom 8.Mai lanciert - ein schmutziger Versuch, die gesamte Landespartei in den Strudel der Barschel-Affäre zu ziehen.

Auch dem 'Spiegel‘ war der Brief nicht geheuer. Eingedenk des Termins ihrer ersten Waterkantgate-Enthüllungen am Vorabend der Wahl im Herbst 1987 mutmaßten die Hamburger, der Brief sei eine gezielte Fälschung, um das Magazin endlich als „linke Kampfpresse“ zu überführen. Diese Version hat allerdings einen Haken. Unterstellt man dem vermeintlichen Fälscher, dessen Arbeit fast ausnahmslos als „hochprofessionell“ eingeschätzt wird, er habe die „linke Kampfpresse“ reinlegen wollen, dann hat er einen entscheidenden Fehler gemacht: Er hätte in das Schreiben mindestens ein Detail einbauen müssen, daß die CDU schnell und vor allem zweifelsfrei hätte widerlegen können. Ein solches Detail aber konnte der taz niemand nennen.

Barschel am 3.Oktober 1987

In der Rückschau wird dagegen deutlich, daß das zentrale Argument der CDU für die Behauptung, der Brief sei eine glatte Fälschung, nicht sticht: Barschel mußte am 3. Oktober sehr wohl den Eindruck haben, er werde von der Partei fallengelassen. Zwar wurde er erst am 9. Oktober von der CDU -Landtagsfraktion förmlich aufgefordert, nun auch sein Abgeordnetenmandat niederzulegen. Aber bereits Anfang des Monats war klar, daß Partei und Fraktion von ihm abrückten.

Am 25. September 1987 trat Barschel vom Amt des Ministerpräsidenten zurück, angeblich um sich vor dem Untersuchungsausschuß glaubhafter verteidigen zu können. Am 28. September führte der Ex-Ministerpräsident ein letztes Gespräch mit seinem Landesvorsitzenden Stoltenberg, der zu diesem Zeitpunkt bereits über einen „begründeten Anfangsverdacht“ der CDU-nahen Lübecker Staatsanwaltschaft gegen Barschel informiert war. Am 30.September erkundigte sich der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende Kribben noch einmal bei Barschel, ob es noch etwas gäbe, was er wissen müßte. Am 1.Oktober wurde dann im Beisein Barschels „in einer Diskussion mit einem größeren Kreis von Fraktionskollegen und politischen Freunden das Für und Wider einer Mandatsniederlegung erörtert“, die auch Barschel selbst (also nicht er allein) ins Gespräch gebracht habe.

Danach, so ein CDU- und Barschel-Kenner heute, „mußte dieser das Gefühl haben, daß die Fraktion nicht mit ihm durch dick und dünn geht“. Deshalb seien in einem Brief vom 3. Oktober Formulierungen wie, er fühle sich „hängengelassen“ und „vorverurteilt“, durchaus schlüssig.

Sollte Barschel dagegen nach dem Treffen am 1. Oktober über die Solidarität seiner Fraktion noch Illusionen gehabt haben, muß ihn spätestens die konstituierende Sitzung des neugewählten Kieler Parlaments am 2. Oktober ernüchtert haben. Der heutige Regierungssprecher Wessels, damals noch Redakteur beim 'Hamburger Abendblatt‘, beschrieb das Ereignis in seiner Zeitung wie folgt: „Spätestens als die Landtagspräsidentin Lianne Paulina-Mürl tonlos seine (Barschels/d.Red.) Rücktrittserklärung verlesen hatte und in die Stille hinein übergangslos sagte: ,...damit kommen wir zu Punkt vier der Tagesordnung‘, sackte Barschel sichtbar in sich zusammen. Diese beklemmende Routine, mit der die wichtigsten fünf Jahre seines Lebens hier schlichtweg abgehakt wurden, trieb ihm die Röte ins Gesicht. Ungläubig, betreten, enttäuscht - so einsam wie in diesen Minuten ist Uwe Barschel wohl noch nie gewesen... Die geschäftsführende Ministerriege gab sich entrückt wie immer, die Abgeordneten der CDU-Fraktion taten geschäftig wie immer. Einer zeichnete sich dabei besonders aus: Fritz Latendorf blätterte, nachdem er seine Aufgabe als Alterspräsident erfüllt und seinen Platz in der ersten Reihe der Abgeordneten eingenommen hatte, emsig in den wenigen Unterlagen für diese erste Sitzung des Parlaments. Uwe Barschel links neben ihm hatte so keine Möglichkeit, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Neben Latendorf der CDU-Fraktionsvorsitzende Klaus Kribben. Barschels Bemühungen, auf sich aufmerksam zu machen, sich an Gesprächen zu beteiligen, stießen auch hier auf wenig Gegenliebe. Seine Energie lief ins Leere.“

Derselbe Autor schrieb nach Barschels Tod im 'Abendblatt‘ einen Nachruf: „Als ich Uwe Barschel zum letzten Mal beobachtete, saß er in der ersten Reihe der CDU-Fraktion im schleswig-holsteinischen Landtag. Das war am 2. Oktober, neun Tage vor seinem Tod. Er war nicht nur äußerlich einsam, isoliert, von seiner Umgebung gemieden. Er war auch innerlich zusammengebrochen... Uwe Barschel war politisch am Ende, war - bevor er in seiner Partei zur Unperson wurde bereits namenlos geworden. Wie tief er menschlich gefallen war, ließ sich nur vermuten.“

Der damals in der CDU noch hochangesehene Landtagsabgeordnete Trutz Graf Kerssenbrock, der erst später von seiner Partei wegen seines unverhohlenen Aufklärungsinteresses aus dem Untersuchungsausschuß geschaßt wurde, betonte in seiner Parlamentsrede am 2. Oktober: „Unser Interesse an Aufklärung ist ... kein Jota geringer als das irgendeiner anderen Fraktion.“ Er wandte sich lediglich gegen eine „Vorverurteilung“ des ehemaligen Ministerpräsidenten, beschwor die Rechtsstaatlichkeit in den Verfahrensweisen. Kein Wort fand sich in seiner Rede, mit dem er Barschel ausdrücklich beigespungen wäre. Dafür aber der Terminus „Vorverurteilung“, der auch in dem auf den 3. Oktober datierten Brief wieder auftaucht und nach Meinung der CDU zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht hätte auftauchen können.

Es spricht vieles dafür, daß Barschel schon am 3. Oktober alle Hoffnung darauf verloren hatte, die Partei werde seinen Sturz ins Bodenlose noch irgendwie auffangen können oder wollen. Die am 9.Oktober ausgesprochene offizielle Aufforderung der CDU-Fraktion, Barschel möge nach seinem Rücktritt als Ministerpräsident nun auch noch sein Landtagsmandat an die Partei zurückgeben, hatte einen internen Vorlauf bis in den September hinein. Der Autor des Briefes hat sich darin - im Gegensatz zur jetzigen Stellungnahme der CDU - nicht geirrt, sondern war über die internen Diskussionen der CDU-Spitze wohlinformiert.

Barschel hätte also sehr wohl ein Motiv für einen drohenden Bittbrief an Stoltenberg haben können. Mehr allerdings nicht. Urheber kann auch ein gut informierter Fälscher gewesen sein, der Barschels Unterschrift unter den Text montierte. Und selbst wenn der Brief echt ist: Barschel muß auch diesmal nicht die Wahrheit gesagt haben.

Der im Brief angesprochene Landesvorsitzende Stoltenberg gab seine Version am 9.Dezember, knapp zwei Monate nach dem Tode Barschels, vor dem Kieler Untersuchungsausschuß zu Protokoll. Die Partei und er selbst, beteuerte der Finanzminister, hatten mit all dem nichts zu tun und haben davon wie Millionen Bundesbürger aus der Presse erfahren. Er habe mit Barschel eine „Arbeitsteilung verabredet“ und sich nie in dessen „operative Angelegenheiten“ gemischt. Bis zum heutigen Tag, so Stoltenberg, könne er nicht erkennen, „daß Mitglieder der CDU in Zusammenhang zu bringen sind mit Dingen, die unter Kieler Affaire zusammengefaßt werden“. Einigermaßen fassungslos kommentierte das konservative 'Flensburger Tageblatt‘: „Stoltenberg schien einen Bericht zu geben über ein fremdes Land.“

Ruhe zwischen den Deichen

Nachdem Björn Engholm seine Kiefernmöbel in Barschels Amtszimmer gerückt hat und Oppositionsführer Heiko Hoffmann nichts ernsthaft Anstößiges an der neuen Regierung entdecken kann, kehrt die in Schleswig-Holstein so geschätzte Ruhe wieder ein. Erfreut über die hohe Akzeptanz im Land brütet die SPD über dem Landeshaushalt. Bei der CDU freut man sich über „die gute Stimmung in der Partei“, so CDU-Sprecher Sanders. Man ist glücklich „endlich wieder Sachpolitik und keine Personalpolitik“ zu machen. Stoltenberg wähnt sich so fest im Sattel, daß er Mitte September in einem Rundfunkinterview sagte, Uwe Barschel sei ein Mißgriff gewesen. Wörtlich: „Ich glaube, daß in der Personalentscheidung des Jahres 1982, in der Weichenstellung zur Neuwahl des Ministerpräsidenten (Stoltenberg gab nach der Wende den Posten ab und ging nach Bonn, ohne den CDU -Vorsitz zu räumen/d.Red.) eine personelle Fehlentscheidung lag.“ Diese Äußerung wird in Kiel als klares Signal für eine erneute Kandidatur Stoltenbergs für den CDU-Landesvorsitz im nächsten Frühjahr gewertet.

Um so ärgerlicher für Regierung und Opposition, daß seit zwei Monaten verschiedene Journalisten erneut die Schatten der Vergangenheit heraufbeschwören und die Wahrheit über das obskure Schreiben herauszufinden versuchen.

Petra Bornhöft/Martin Kempe