: Klassenfeindtreffen in Ost-Berlin
CDU-Sozialausschüsse (CDA) erstmals in der DDR / Herzlicher und warmer Empfang durch den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund / Hochkarätige Delegation auf beiden Seiten / Gemeinsamkeiten betont ■ Von Benedict M. Mülder
Berlin (taz) - Den 25 christdemokratischen Gewerkschaftern aus den Reihen der CDU-Sozialausschüsse ging das Wort von den „Werktätigen“ am zweiten Tag genauso leicht über die Lippen wie deren wahren Interessenvertretern im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund der DDR. Das „Du“ wurde obligatorisch und der CDA-Vorsitzende Ulf Fink, Sozialsenator in Berlin, nannte den Präsidialen im FDGB -Bundesvorstand, Dr.Fritz Rösel, der auch Mitglied der Volkskammer ist, gar einen „lieben Kollegen“.
Die Premiere hätte kaum besser ausfallen können. Erstmals besuchte am vergangenen Wochenende eine CDA-Delegation die DDR, und das ausgerechnet im Geiste Jakob Kaisers, des ersten CDA-Vorsitzenden und führenden Gegners der SED in der damaligen Sowjetzone. Dessen Name fiel denn auch als Verweis auf das Erbe, „die Lösung der nationalen und sozialen Frage“. Doch muß es auch der „oberen Ebene“ der DDR-Führung klar geworden sein, daß der CDA-Trip nicht großdeutschen Ambitionen galt, sondern - wie es der deutschlandpolitische Sprecher der CDA, Lehmann-Brauns, ausdrückte - dem „Dialog der Menschen auf der Straße, der kleinen Leute“. Die Sozialausschüsse hatten ihre Delegation entsprechend zusammengesetzt, nicht nur Großkopfete, auch Betriebsrätinnen und -räte waren mit von der Partie.
Auf der anderen Seite FDGB-Funktionäre der höchsten und mittleren Ebenen, Vertrauensleute im VEB Kombinat Riesa, aber auch Vertreter der CDU-Ost und der liberalen Partei. Schließlich blieben sogar Spielräume, um bei einem Mittagesen im Ermler-Haus in Ost-Berlin Superintendent Krusche, Pfarrer Eppelmann und Leute aus der Friedensszene zu treffen.
Offenkundig war, daß niemand im anderen den „Klassenfeind“ entlarven wollte. Fink zitierte Honecker: Das Gemeinsame, auch die gemeinsamme Geschichte, überwöge das Trennende. In der DDR das „Babyjahr“, „bei uns“ das Erziehungsjahr, die Probleme mit den geburtenschwachen Jahrgängen, die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung. Rösel: „Wir wollen aus Fink aber keinen DDR-Bürger, kein SED-Mitglied machen.“
An kritischen Beiträgen ließen es die „lieben Kolleginnen und Kollegen“ aus der BRD gleichwohl nicht fehlen. „Wo ist die Gleichberechtigung, wenn ich so wenig Frauen sehe“, wollte Anneliese Jackisch wissen, eine christdemokratische Gewerkschafterin. Mit 91 Prozent hat die DDR eine der höchten Frauenarbeitsquoten, und überhaupt sind sie natürlich überall zahlreich in den Führungskadern vertreten. „Ich bin die Reservefrau“, erklärt FDGB-Mann Rösel. Als wackerer Vertreter von „Ruhe und Ordnung“ gerierte er sich indes, als der ruppige Einsatz der Volkspolizei gegen protestierende Kirchenmitglieder zur Sprache kam. „Wir wollen die Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit, sind nicht Verfechter von Gewalt, wollen keine Konfrontation, sondern den Dialog“, betonte er. Die Demonstration sei schließlich nicht angemeldet gewesen. Die Übergriffe auf die Presse rechtfertigte er mit deren „Horrormeldungen und Manipulationen“. Nun gut, das mußte wohl gesagt werden.
Treffend schätzte Superintendent Krusche die „komplizierte Lage“ ein: „Wenn die Fahne flattert, sitzt der Verstand in der Trompete“, zitierte er ein altes ukrainisches Sprichwort.
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