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Unerbittlich wie der Sowjet

Über die Welturaufführung des Fußball-EM-Films „Tor“  ■  PRESS - SCHLAG

In Zeiten höchster Konfusion muß es gestattet sein, sich an Autoritäten zu wenden. Und so greifen wir zum „Volksbrockhaus A-Z“ (15. neu bearbeitete Auflage, 1977) und schlagen nach unter Drama. Die Antwort kurz und knapp: „bewegtes, erschütterndes Geschehen.“ Es ist demnach kein geringer Anspruch, den die Macher des offiziellen Films über die Europameisterschaft der Kicker da formulieren. Wir würden, so war zu lesen und so wurde es Minuten vor der Welturaufführung am Mittwoch noch einmal mündlich wiederholt, nun einem „Drama“ beiwohnen, welches für genau 58 Minuten ein Fieber bei uns ausbrechen lasse, zumindest aber das „Gefühl dabei zu sein“.

Möglich, daß das Produkt der Firmen „Worldmark“ und 'FAZ‘ mit dem bewegenden Titel Tor: Fußball Total den eigenen Ansprüchen einfach nicht gerecht wird. Es soll nicht Rede geführt werden gegen den Film an sich: es gibt Momente im Alltag, über die nur ein schmachtvoller Seeräuberschinken oder ein Sportvideo hinweghilft. Deshalb ist unser Hinweis „Vorsicht, dieser Film verstärkt Ihre Depressionen“ als ein Stück Lebenshilfe zu begreifen.

Nicht auszudenken, was mit einem halbwegs sensiblen Menschen passiert, wenn er solchen Sätzen ausgeliefert wird: Da treffen sich „im Abendsonnenlicht die alten Rivalen Deutschland und Holland“, brechen „Englands Attacken wie Wellen an einem grünen Strand“, werden Spiele „aus dem Feuer gerissen“, „in die Hand genommen“, gerät der Trikottausch zum „Andenken an den ritterlichen Ehrentag des Gegners“. Natürlich „bevorzugen die Italiener die wärmende Sonne auf ihrem Rücken“, sind „die Spanier auf dem Sprung zum Erfolg“, regiert im Osten die „einstudierte Taktik“ und im Westen der „Individualismus“.

Die journalistische Sorgfaltspflicht allerdings gebietet festzustellen, das dem Drama auch zwei überaus hübsche Lacher eingebaut wurden: 1. visuell, als dem schmollend am Boden sitzenden Völler gemeinerweise durch eine Hand, deren Besitzer nicht im Bild erscheint, von hinten an den Haaren gerissen wird (Großaufnahme); 2. verbal, als Gullit im Finale das 1:0 köpft, „sein einziger Treffer in diesem Turnier, aber sein wichtigster“.

Ansonsten war es halt ein prima Turnier mit haufenweisen Toren, fein chronologisch aufgereiht, gab es weder leere Flaschen noch volle Fans, Schlägereien schon gar nicht, und auch das Wetter spielte trefflich mit, beileibe „keine Selbstverständlichkeit“ (DFB-Präsi H. Neuberger).

Bis auf diesen einen Tag, als es prasselt und prasselt, und „der Regen so unerbittlich ist wie die Sowjets“. Nun wissen wir ja, und da kann uns auch Gorbatschow nicht einwickeln, daß der Sowjet ein schlimmer Finger ist. Aber nie, nein, nimmermehr, kann er so unerbittlich sein wie dieser Film.

Herr Thömmes

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