: UNHEIMLICHE CASTROIKA
■ Interview mit Regisseur Peter Lilienthal zum Kongreß für kulturelle Zusammenarbeit Mittelamerika-Karibik
taz: Was möchten Sie erreichen?
Peter Lilienthal: Die Idee des Kongresses war eine Kooperation in den Dingen, die wirklich fehlen. Für einen wechselseitigen Kulturaustausch sind das - wenigstens aus der Sicht der Filmregisseure und Schriftsteller, die in der Mehrzahl vertreten sind - die Institutionen und die Gelegenheiten. Mit den Veranstaltungen des Goethe-Instituts z.B. glänzen wir - mehr oder weniger - im Ausland. Aber das ist eingleisig. Und wenn die offizielle Kultur Lateinamerika darstellen will, dann fängt man an bei Humboldt! Die Lateinamerikaner denken manchmal, daß sich seit der Zeit von Kolumbus wenig geändert hat. Deshalb wollen wir den Blick auf das Fremde so werfen, daß wir nicht mit dem und den anderen in Konkurrenz treten. Dazu gehört ein ganz verschiedener Begriff von Kultur. Die zentralamerikanische z.B. ist die Kultur des Alltäglichen, der Begegnung, der Beziehung in der Familie, das Eingehen auf den Tod, auf die Kinder, das Zusammensein, die Solidarität. Das ist in meinen Augen eigentlich Kultur. Während man sie bei uns in Institutionen verwaltet, die eigentlich eine Gruft sind - in der etwas abgelagert und konserviert wird, um es ab und zu in einer Vitrine auszustellen, damit wir die Errungenschaften des Abendlandes vorzeigen können.
Der zweite Schwerpunkt: Zukunftsentwürfe. Das klingt nun sehr pathetisch, heißt aber ganz einfach, gemeinsam sich vorzutasten in etwas Unbekanntes. Denn einige Probleme sind solche, die 'beide' Kulturen betreffen, wie z.B. die Umweltzerstörung. Andere sind sicher ganz verschieden. Es kann passieren, daß man uns sagt: Was heißt hier „Entwürfe“? Unsere Zukunft, unsere Gegenwart ist die Guerilla, ist Folter, Hunger. Die ökologischen Überlegungen, die ihr macht, sind für uns sehr weit weg. Aber wir können unsere Zweifel zumindest präsentieren. Das ist alles ideologisch nicht gestützt und entspricht keiner philosophischen Schule. Es ist einfach die Untersuchung dieses ungeordneten Materials, bei einigen mit etwas Angst, bei den anderen mit sehr viel Naivität und Hoffnung.
Nach den Vorbereitungs-Papieren hat man ein bißchen den Eindruck, als wären es Intellektuelle, die die Kultur machten, und als würden sie, etwa was die Zukunftsentwürfe betrifft, die alte Rolle des stellvertretenden Sprechers für andere spielen?
Ich weiß nicht, wo das stehen soll, aber beabsichtigt ist Kooperation, beabsichtigt ist, daß wir lernen. Es gibt kein einheitliches Denken, und der Kongreß hat kein einheitliches Klima. Als erstes könnten einmal die wechselseitigen Mythen aufgeklärt werden. Ich bin zum Beispiel in Berlin geboren und als kleines Kind nach Uruguay gekommen, mit Spanisch als Muttersprache. Meine Generation glaubte, das Heil unseres Landes, unserer Kultur liege in Paris. Die Leute, wenigstens die Männer, träumten von schönen Frauen und vom Louvre. Niemand wollte nach Santiago gehen, oder nach Asuncion, das war schon der Urwald. Das ist verständlich. Umgekehrt haben die Europäer, die aus den schrecklichen Trümmern ihrer Geschichte hervorkamen, gedacht, daß das Heil im Urwald steckt: die ewige Sonne, die Wärme, der wilde Mensch, der wilde Blick, das Ursprüngliche... Auch nicht falsch! Die Sehnsüchte stimmten ja, aber sie wurden benutzt, mißbraucht. Wir hatten also den Mythos von diesem unbeschreiblichen Europa, der großen Kultur auf der einen, auf der anderen den vom Wilden, der dann stufenweise in eine andere Richtung geführt wurde: erst Humboldt, dann Che Guevara, Camillo Torres usw. Die Medien haben noch was dazu getan, um diesen Mythos aufrecht zu erhalten, durch das Informationsmonopol, was ja ganz betont zugunsten von uns und zu Lasten von ihnen ausfällt. Wir berichten über Nicaragua, die europäischen Regisseure sind Stellvertreter für Lateinamerikaner, noch nicht einmal immer aus finanziellen Gründen, sondern aus politischen. Wir haben für sie gesprochen in den letzten 20 Jahren. Jetzt kommt der Moment zu überlegen, was das für ein Unfug war und wo nicht. Aus all dem hat sich eine sehr komplizierte, wechselseitige Verschränkung und Verbindungen ergeben. Hans Platschek wird über die „Rückführung“ sprechen: In der Kunst der zwanziger Jahre wurde mit Indio -Symbolen, mit abstrakten Zeichen der amerikanischen Welt gearbeitet, bei Picasso, Braque, den Fauves („Wilden“), dem Kubismus. Die lateinamerikanischen Künstler ihrerseits bildeten sich in Europa weiter. Es ist ein einziges Durcheinander, sozusagen Trans-Mythen oder Supra-Mythen, die sich dreimal in sich selbst gewälzt und befürchtet haben. Das Problem ist nur, daß die Europäer sich gerne darin spiegeln, aber ihren Anteil vergessen. Die Lateinamerikaner sind beides, die Europäer nur Europäer! - Amerika habe ich eigentlich zum ersten Mal entdeckt in Nicaragua, und in Chile Anfang der siebziger Jahre unter Allende, aber nicht in Uruguay, das mit dem Rücken zu Lateinamerika steht wie heute noch einige Nationen auf dem Kontinent.
Eine der schrecklichen Vereinfachungen lese ich aber ausgerechnet bei einem Zitat des Kongreß-Präsidenten Ellacuria. Er meint, daß künstlerische Arbeit da zukunftsweisend ist, wo sie „das Ursprüngliche erhält und damit auch besonders für die europäische Kultur exemplarische Bedeutung gewinnt“. Weiter wird Carlos Rincon sinngemäß als Bewahrer traditioneller Kultur mit dem Satz referiert: Transistor und Fernsehen töten die Lieder.
Bleiben wir bei diesem Beispiel. Ellacuria lebt in El Salvador, wo es ca. 40 Fernsehstationen gibt, weil der Satellit günstig liegt. Davon sind 35 in Nicht-Spanisch, und sie alle machen zu 90% Produktwerbung. Wir diskutieren schon lange über Schäden durch Medien. Wenn Reinhard Hauff ihnen sagt, das ist eine McDonaldisierung der Kultur, dann sagen sie, daß es bei ihnen nie anders war. Ellacuria meint, daß man sich selbständig machen, alternative Informationen geben und das Monopol durchbrechen muß, beispielsweise durch einen universitätseigenen Sender. Die Mediensituation führt aber auch zu seltsamen Kombinationen, zu einer Ästhetik, die wir auch - z.B. auf dem Hearing „Massenkommunikation“ diskutieren wollen. Das beste Beispiel ist der Werbespot, der in den letzten zwei Monaten benutzt wurde von der Gruppe, der es erlaubt war, im Fernsehen aufzutreten gegen Pinochet. Das ist ein perfekter Video-Clip mit Musik in einer Ästhetik mit derselben Ästhetik könnte man für Nivea -Creme oder Coca-Cola werben. Wie man weiß, haben viele Filmemacher in Chile nur überleben können, indem sie diese Produktwerbung machten. Das ist innerhalb dieser Gattung mit so viel Witz und Schwung gemacht, mit dem Verständnis: das Volk hat jetzt die letzten 15 Jahre Videoclips gesehen, nun benutzen wir ihn und arbeiten innerhalb dieser Ästhetik, um sie für ein gutes Ziel zu mobilisieren. Da kann man sagen, du großer Gott, hätten sie es denn nicht anders machen können? Darüber läßt sich diskutieren. Es war sehr erfolgreich. Und das meine ich mit dem Vermarktungsproblem. Man kann auch etwas Gutes vermarkten mit den Methoden, die uns oft, wenn es um schlechte Dinge geht, besonders schlecht erscheinen. Aber ich kann in diesem Bereich nicht so verallgemeinern.
Für ein sehr rohes und trockenes Verständnis von Politik muß man sicher noch einmal nach dem Verhältnis von Kulturprodukten und Realpolitik fragen. Macht man mit so einem Kongreß nicht den Schwenk auf „Kultur“ als Ausweichbewegung mit, wie er beispielsweise auf den Berliner Großveranstaltungen abzusehen ist?
Für einen lateinamerikanischen Intellektuellen ist diese Diskussion einfach undenkbar. Hier, in dieser Akademie, wurde vor Grass und nach Grass thematisiert - ich habe das nie begriffen - ob sich der Künstler in einmischen Politik. Darf er sich engagieren? Gibt er nicht damit Positionen auf? Soll er sich nicht, wie es George Conrad sagt, nur mit Anti -Politik beschäftigen - wie auch immer das jetzt definiert wird. Das alles steht ja auch den europäischen Intellektuellen zu mit ihren ganzen Enttäuschungen und Problemen usw. Auf der anderen Seite ist es für einen lateinamerikanischen Intellektuellen undenkbar - und der Beweis ist der Vizepräsident von Nicaragua und das ganze Kabinett - Gedichte zu schreiben, Priester zu sein, Soziologe zu sein, ohne direkt im politischen Geschäft was übernommen zu haben. Wer soll es denn sonst machen? Wir haben darüber gesprochen, daß es undenkbar ist in der deutschen Tradition der letzten Jahrzehnte, daß ein Dichter Minister wird, Botschafter. Wir brauchen nicht einmal nach Zentralamerika zu gehen, das ist selbstverständlich für die Italiener, die Franzosen. Allein dieser Rückzug und diese Berührungsangst, das sich Zurückhalten, das vielleicht aus einer deutschen Geschichte der Enttäuschungen entsteht, der Ängste, auch des subalternen Verhaltens, mag das alles erklären, aber wir machen den Kongreß auch zum Teil für die, die sich nicht trauen, eine Funktion zu übernehmen.
Die Diskussion über die Einmischung der Künstler in die Politik aber kann ich, das sage ich jetzt auch als Lateinamerikaner, angesichts der letzten 40 Jahre gerade in Deutschland überhaupt nicht verstehen.
Nehmen wir einmal den Verrat an der Mittelklasse, ganz typisch in Zentralamerika, Panama zum Beispiel. Sie erinnern sich an die Zeit der Torrijos. Da ist ein sehr guter Schriftsteller, Jesus Martinez. Der war eine Art Sekretär und Botschafter von Torrijos. Ich habe jetzt vor kurzem sein Buch gelesen, das gefiel mir sehr, unter anderem, weil er ein Experiment gemacht hat, das in gewisser Hinsicht einmalig ist. Er ist mit 45 Jahren in die Armee gegangen, als, wie nennt man diesen unteren Grad, Sergeant...?
Feldwebel oder so?
Nein, das ist noch was Größeres, irgendwas ganz niedriges, und da haben natürlich die Soldaten und Offiziere gesagt, was soll das mit 45, wir haben ein hartes Training, aber nun gut, es ist ja auch eine kleine Armee, mach mal mit. Durch verschiedene Umstände kam er dann in die Nähe des Hauptquartiers von Torrijos. Und da man wußte, er ist Professor für Philosophie und Mathematik, hat in Paris studiert und ist ein Intellektueller, was nun wirklich selten in der Armee vorkommt, hat Torrijos, der auf seine Art ein sehr gebildeter Mann war, ganz anders als die klassischen lateinamerikanischen Generäle - schon daher ist die Figur interessant - ihn zu sich gerufen, und er war erst in der Wache von Torrijos und dann ist er auch mit ihm herumgefahren und hat ihn auch beraten, sie haben diskutiert usw. Daraus ist ein Buch von ihm entstanden - und ein berühmtes Buch von Graham Greene, das nicht von Torrijos, sondern von Martinez handelt.
Was mich aber interessiert, ist etwas ganz Simples: Die Soldaten sagten, du kommst jetzt zu uns und wirst einmal sehen, was ein hartes Leben ist. Ein Intellektueller, der nun zu den Soldaten kommt, der wird dann erst wissen, was es bedeutet, das Vaterland zu verteidigen. Und er hat gesagt, nein, meine Herren, Sie irren sich. Ich komme hierher, damit Sie wissen, was eine Universität ist, was Denken ist, was Gedicht ist, Literatur, Philosophie. Ich komme hierher, damit sie in die Universität gehen. Und das fanden sie einleuchtend. Torrijos hat dann später so eine Art kleine Universität gegründet, und hat damals auch wie in Portugal den Soldaten Gelegenheit gegeben, das Volk kennenzulernen. Das ist ja überhaupt einer der großen Konflikte. Die Leute vom Land gehen in die Kaserne, einfache Soldaten, dann plötzlich sind sie bereit, ihre eigenen Leute zu unterdrücken. Diese Dinge werden da thematisiert.
Aber ich sprach gerade von dem Verrat am Mittelstand. In Panama ist alles Dienstleistung, Ankauf, Verkauf, Export usw. Diese Mittelschicht, die sich immer an Nordamerika orientiert, sie tut es auch in El Salvador, sie tat es, obwohl das eine ganz andere Situation ist, in Nicaragua, wo der Somoza eigentlich ein Großgrundbesitzer war mit einer kleinen Schicht, für die Nordamerika alles war und die eigentlich für nichts anderes lebten, nur daß ihre Söhne plötzlich eine andere Vorstellung hatten. Aber das ist ja auch die neue Generation. Denn wir sagten „Imperialismus“, CIA, Hunger, also klassische Feinde. Aber über diese Haltung von unseren eigenen Leuten hat man wenig geredet, vielleicht aus Scham, vielleicht aus Unwissen. So wie man hier wenig weiß von der Situation zum Beispiel des lateinamerikanischen Soldaten. Der kommt in die Kaserne und bekommt dort sozusagen das erste Mal ein warmes Süppchen, eine Uniform, die den Mädchen auf der Straße gefällt. Dann ist er bereit, weil der Offizier ihm sagt, die Studenten da draußen, das sind Kommunisten, die bedrohen dich und uns, das Vaterland zu verteidigen. Aber hier stellen sich die Leute vor, und jetzt kommen wir auf das Hauptthema wieder, daß es alles so ist, wie sie sich es vorstellten, zum Beispiel wie in der Bundeswehr. Die gehen aufs Gymnasium, werden gut ausgebildet usw. So ist es eben nicht.
Eine Frage dazwischen: Können die Zentral- oder die Lateinamerikaner Heterogenität besser vertragen? Müssen sie nicht so vereinheitlichen wie wir?
Das ergibt sich schon aus der Zusammensetzung der Leute. Ich glaube, daß selbst die Kubaner, die über viele Jahre sehr geschlossen auftraten und wenig heterogen, daß bei denen, wie sie's zum Teil im Scherz sagen, die „Castroika“ sich entwickelt. Es gibt lateinamerikanische Politiker oder Künstler, die mit großem Pathos etwas vortragen in der Öffentlichkeit und vielleicht auch gegenüber ihren Freunden, was sehr dogmatisch erscheint. Und trotzdem, mit einem einzigen Satz wird das zurückgenommen, und mit einer großen Geste wird wiederum das Universelle und das Großzügige gezeigt. Derselbe Mann, der schreit es lebe dies, nieder mit dem Kapitalismus und sonst was, ist gleichzeitig in der Auslegung dieser Idee so großzügig, so vielseitig. Hier ist es umgekehrt.
Also was bei uns die „List der Vernunft“ ist, ist dort die „Herzenslist“?
So würde ich es exakt nennen. Nur wenn der Widerspruch nicht erkannt wird, dann sitzen wir natürlich in der Klemme. Man muß die Leute manchmal am Glanz ihrer Augen messen, an der Geste ihrer Hände, an der Art, wie sie auf jemand anderen zugehen und etwas wissen wollen. Denn das zeichnet sie alle aus im Gegensatz zu unseren von mir aus heterogenen. Sie sind neugierig, sie lassen sich auf andere ein. Eine Isolierung, solche Mauern, die bei uns oft auftauchen, auch bei denen, die glauben, so universell zu sein und so großzügig in ihrem Denken, die gibt es dort nicht.
Ich sehe hier dieses Hearing: „Weibliche Perspektiven in Kunst und Politik“, ist das ein Kongreß-Muß?
Es gibt ganz starke Bemühungen in Ländern, wo es noch seltener geschah, daß Frauen Politiker sind, daß Frauen Museen übernehmen oder Schulen, daß sie an die Stelle von Männern kommen, und in den meisten Ländern von Zentralamerika und überhaupt von Lateinamerika entwickelt sich da etwas, in dieser machistischen Gesellschaft. Wir haben hier die Vize-Kultusministerin von Costa Rica, Adriana Prado. Was passiert in ihrem Land zum Beispiel, wo sind Ansätze, die sie mit den europäischen Frauen besprechen möchte, die Gemeinsamkeiten. Vielleicht ist es nur ein Programm, das die gemeinsam hier ausdenken, oder ein neuer Austausch von Ideen. Also da muß man sehen, was passiert.
Ich frage natürlich, weil das zu jeder Veranstaltung inzwischen schon dazu gehört.
Das ist natürlich das schlechte Gewissen der Mehrzahl der Männer. Ich weiß nicht, wie oft hier der Satz fiel: Hier müssen Frauen rein. Die sind sich alle einig. Aber manchmal taucht dann auch der Ehrgeiz auf, jetzt will ich auch mal was für Männer machen. Ich würde das nicht sagen, aber plötzlich kommt so was ganz Albernes in das Gespräch. Nur ist es ja offensichtlich keine feministische Perspektive, sondern eine emanzipatorische. Aber wie das gesehen wird, da werden wir manche Überraschungen erleben, ich weiß es auch nicht. Über Zukunftsentwürfe haben wir schon in Ansätzen gesprochen, da kommen dann so Leute zusammen wie übrigens Robert Jungk, ein klassischer...
Entwerfer...
... und da kann es passieren, daß man sagt, was heißt hier „Entwürfe“? Unsere Zukunft, unsere Gegenwart ist die Guerilla, Folter, Hunger. Die ökologischen Überlegungen etc., die ihr macht, das ist für uns schon sehr, sehr weit weg. Das ist kein Thema. Das kann schon sein. Aber vielleicht spricht man nur über die Methode des Denkens. Über die Blindheit der Europäer, sich diese Zukunft überhaupt vorzustellen, weil sie eben alles aufgegeben haben an Fundamenten.
Das Gespräch führte Martin Reuter
Die Diskussion über die Einmischung der Künstler in die Politik aber kann ich, das sage ich jetzt auch als Lateinamerikaner, angesichts der letzten 40 Jahre gerade in Deutschland überhaupt nicht verstehen.
Nehmen wir einmal den Verrat an der Mittelklasse, ganz typisch in Zentralamerika, Panama zum Beispiel. Sie erinnern sich an die Zeit der Torrijos. Da ist ein sehr guter Schriftsteller, Jesus Martinez. Der war eine Art Sekretär und Botschafter von Torrijos. Ich habe jetzt vor kurzem sein Buch gelesen, das gefiel mir sehr, unter anderem, weil er ein Experiment gemacht hat, das in gewisser Hinsicht einmalig ist. Er ist mit 45 Jahren in die Armee gegangen, als, wie nennt man diesen unteren Grad, Sergeant...?
Feldwebel oder so?
Nein, das ist noch was Größeres, irgendwas ganz niedriges, und da haben natürlich die Soldaten und Offiziere gesagt, was soll das mit 45, wir haben ein hartes Training, aber nun gut, es ist ja auch eine kleine Armee, mach mal mit. Durch verschiedene Umstände kam er dann in die Nähe des Hauptquartiers von Torrijos. Und da man wußte, er ist Professor für Philosophie und Mathematik, hat in Paris studiert und ist ein Intellektueller, was nun wirklich in der Armee vorkommt, hat Torrijos, der auf seine Art ein sehr gebildeter Mann war, ganz anders als die klassischen lateinamerikanischen Generäle - schon daher ist die Figur intererssant - ihn zu sich gerufen, und er war erst in der Wache von Torrijos und dann ist er auch mit ihm herumgefahren und hat ihn auch beraten, sie haben diskutiert usw. Daraus ist ein Buch von ihm entstanden - und ein berühmtes Buch von Graham Greene, das nicht von Torrijos, sondern von Martinez handelt.
Was mich aber interessiert, ist etwas ganz Simples: Die Soldaten sagten, du kommst jetzt zu uns und wirst einmal sehen, was ein hartes Leben ist. Ein Intellektueller, der nun zu den Soldaten kommt, der wird dann erst wissen, was es bedeutet, das Vaterland zu verteidigen. Und er hat gesagt, nein meine Herren, Sie irren sich. Ich komme hierher, damit Sie wissen, was eine Universität ist, was Denken ist, was Gedicht ist, Literatur, Philosophie. Ich komme hierher, damit sie in die Universität gehen. Und das fanden sie einleuchtend. Torrijos hat dann später so eine Art kleine Universität gegründet, und hat damals auch wie in Portugal den Soldaten Gelegenheit gegeben, das Volk kennenzulernen. Das ist ja überhaupt einer der großen Konfilkte. Die Leute vom Land gehen in die Kaserne, einfache Soldaten, dann plötzlich sind sie bereit, ihre eigenen Leute zu unterdrücken. Diese Dinge werden da thematisiert.
Aber ich sprach gerade von dem Verrat am Mittelstand. In Panama ist alles Dienstleistung, Ankauf, Verkauf, Export usw. Diese Mittelschicht, die sich immer an Nordamerika orientiert, sie tut es auch in El Salvador, sie tat es, obwohl das eine ganz andere Situation ist, in Nicaragua, wo der Somoza eigentlich ein Großgrundbesitzer war mit einer kleinen Schicht, für die Nordamerika alles war und die eigentlich für nichts anderes lebten, nur daß ihre Söhne plötzlich eine andere Vorstellung hatten. Aber das ist ja auch die neue Generation. Denn wir sagten „Imperialismus“, CIA, Hunger, also klassische Feinde. Aber über diese Haltung von unseren eigenen Leuten hat man wenig geredet, vielleicht aus Scham, vielleicht aus Unwissen. So wie man hier wenig weiß von der Situation zum Beispiel des lateinamerikanischen Soldaten. Der kommt in die Kaserne und bekommt dort sozusagen das erste Mal ein warmes Süppchen, eine Uniform, die den Mädchen auf der Straße gefällt. Dann ist er bereit, weil der Offizier ihm sagt, die Studenten da draußen, das sind Kommunisten, die bedrohen dich und uns, das Vaterland zu verteidigen. Aber hier stellen sich die Leute vor, und jetzt kommen wir auf das Hauptthema wieder, daß es alles so ist, wie sie sich es vorstellten, zum Beispiel wie in der Bundeswehr. Die gehen aufs Gymnasium, werden gut ausgebildet usw. So ist es eben nicht.
Eine Frage dazwischen: Können die Zentral- oder die Lateinamerikaner Heterogenität besser vertragen? Müssen sie nicht so vereinheitlichen wie wir?
Das ergibt sich schon aus der Zusammensetzung der Leute. Ich glaube, daß selbst die Kubaner, die über viele Jahre sehr geschlossen auftraten und wenig heterogen, daß bei denen, wie sie's zum Teil im Scherz sagen, die „Castroika“ sich entwickelt. Es gibt lateinamerikanische Politiker oder Künstler, die mit großem Pathos etwas vortragen in der Öffentlichkeit und vielleicht auch gegenüber ihren Freunden, was sehr dogmatisch erscheint. Und trotzdem, mit einem einzigen Satz wird das zurückgenommen, und mit einer großen Geste wird wiederum das Universelle und das Großzügige gezeigt. Derselbe Mann, der schreit es lebe dies, nieder mit dem Kapitalismus und sonst was, ist gleichzeitig in der Auslegung dieser Idee so großzügig, so vielseitig. Hier ist es umgekehrt.
Also was bei uns die „List der Vernunft“ ist, ist dort die „Herzenslist“?
So würde ich es exakt nennen. Nur wenn der Widerspruch nicht erkannt wird, dann sitzen wir natürlich in der Klemme. Man muß die Leute manchmal im Glanz ihrer Augen messen, an der Geste ihrer Hände, an der Art, wie sie auf jemand anderen zugehen und etwas wissen wollen. Denn das zeichnet sie alle aus im Gegensatz zu unseren von mir aus heterogenen. Sie sind neugierig, sie lassen sich auf andere ein. Eine Isolierung, solche Mauern, die bei uns oft auftauchen, auch bei denen, die glauben, so universell zu sein und so großzügig in ihrem Denken, die gibt es dort nicht.
Ich sehe hier dieses Hearing: „Weibliche Perspektiven in Kunst und Politik“, ist das ein Kongreß-Muß?
Es gibt ganzt starke Bemühungen in Ländern, wo es noch seltener geschah, daß Frauen Politiker sind, daß Frauen Museen übernehmen oder Schulen, daß sie an die Stelle von Männern kommen, und in den meisten Ländern von Zentralamerika und überhaupt von Lateinamerika entwickelt sich da etwas, in dieser machistischen Gesellschaft. Wir haben hier die Vize-Kultusministerin von Costa Rica, Adriana Prado. Was passiert in ihrem Land zum Beispiel, wo sind Ansätze, die sie mit den europäischen Frauen besprechen möchte, die Gemeinsamkeiten. Vielleicht ist es nur ein Programm, das die gemeinsam hier ausdenken oder ein neuer Austausch von Ideen. Also da muß man sehen, was passiert.
Ich frage natürlich, weil das zu jeder Veranstaltung inzwischen schon dazu gehört.
Das ist natürlich das schlechte Gewissen der Mehrzahl der Männer. Ich weiß nicht, wie oft hier der Satz feil: Hier müssen Frauen rein. Die sind sich alle einig. Aber manchmal taucht dann auch der Ehrgeiz auf, jetzt will ich auch mal was für Männer machen. Ich würde das nicht sagen, aber plötzlich kommt so was ganz Albernes in das Gespräch. Nur ist es ja offensichtlich keine feministische Perspektive, sondern eine emanzipatorische. Aber wie das gesehen wird, da werden wir manche Überraschungen erleben, ich weiß es auch nicht. Über Zukunftsentwürfe haben wir schon in Ansätzen gesprochen, da kommen dann so Leute zusammen wie übrigens Robert Jungk, ein klassischer...
Entwerfer...
... und da kann es passieren, daß man sagt, was heißt hier „Entwürfe“? Unsere Zukunft, unsere Gegenwart ist die Guerilla, Folter, Hunger. Die ökologischen Überlegungen etc., die ihr macht, das ist für uns schon sehr, sehr weit weg. Das ist kein Thema. Das kann schon sein. Aber vielleicht spricht man nur über die Methode des Denkens. Über die Blindheit der Europäer, sich diese Zukunft überhaupt vorzustelen, weil sie eben alles aufgegeben haben an Fundamenten.
Das Gespräch führte Martin Reuter
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen