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Wirbelsturm „Joan“ verwüstet Nicaragua

Hafenstadt Bluefields vollständig zerstört / Überschwemmungen in Managua / Landesweit 300.000 Menschen obdachlos / Ortega befürchtet Ausnutzung des Notstands für militärische Eingriffe durch die USA / Oberster Verteidigungsrat einberufen / Contra attackiert Ambulanzwagen  ■  Aus Managua Ralf Leonhard

Die nicaraguanische Hafenstadt Bluefields, mit 20.000 Einwohnern wichtigster Ort an der Atlantikküste des Landes, ist völlig zerstört. Nicht der Krieg, die Natur hat zugeschlagen. Mit über 220 Stundenkilometern fegte der Hurrikan „Joan“ am Samstag über die Stadt hinweg, die vor allem von der Minderheit der englischsprachigen schwarzen Creoles bewohnt wird. 90 Prozent der Häuser - fast durchweg aus Holz gebaut und mit Zinkdächern versehen - fielen dem Wirbelsturm zum Opfer. Mindestens zehn Einwohner kamen zu Tode. Noch am Vortag war Staatspräsident Daniel Ortega nach Bluefields gereist, das nur auf dem Wasser- oder Luftweg zu erreichen ist. Er mußte feststellen, daß sich viele BewohnerInnen einer Evakuierung widersetzten, einfach, weil sie die herannahende Katastrophe unterschätzten.

Kurz bevor „Joan“, der zuvor schon in Kolumbien und Venezuela 26 Menschenleben forderte, das nicaraguanische Festland erreichte, meldete sich der sandinistische Abgeordnete Ray Hooker per Sprechfunk von der 80 Kilomter außerhalb von Bluefields gelegenen Karibikinsel Corn Island: „Ich habe das Erdbeben miterlebt, das 1972 Managua zerstörte. Aber das hier war schlimmer.“ 14 Stunden hatte der Hurrikan auf dem Eiland gewütet, das vom Fischfang und von Tourismus lebt. „Hier gibt es kein Haus mehr mit Dach. An die 95 Prozent aller Bäume sind entwurzelt“, berichtete Hooker in seiner ersten Bilanz an Präsident Ortega. Mindestens drei Menschen wurden getötet, die Kirchen, der einzige Gesundheitsposten der Insel, alle Schulen und Fischerboote und die Fabrik zur Verarbeitung von Meeresfrüchten - alles wurde in der Nacht von Freitag auf Samstag vernichtet.

In Rama, 60 Kilometer westlich von Bluefields, wo die Straße vom Pazifik zum Atlantik endet, wurden 90 Prozent der Häuser zerstört, 140 Personen werden vermißt. Eine Brigade von kubanischen Spezialisten, die bereits bei der Evakuierung geholfen hatten, nahm inzwischen die Rettungsarbeiten an der Atlantikküste auf.

Als der tropische Wirelsturm am Samstag kurz vor Mitternacht Managua erreichte, hatte er bereits reichlich an Kraft eingebüßt. Mehrere Abwasserkanäle, die schon den normalen Niederschlägen der Regenzeit nicht gewachsen sind, traten über die Ufer und setzten zahlreiche Stadtteile unter Wasser. Allein in der Hauptstadt, wo ein Drittel der drei Millionen Nicaraguaner leben, waren circa 80.000 Menschen präventiv evakuiert worden, landesweit über 200.000. Während in der gesamten Pazifikregion noch die Regenfälle anhalten, hat der Sturm wieder das offene Meer erreicht und sich über dem Pazifischen Ozean in den Hurrikan „Miriam“ verwandelt.

Nach ersten Schätzungen sind in Nicaragua 300.000 Menschen obdachlos geworden. Die Kaffee-, Baumwoll- und Bananenernte hat schweren Schaden genommen. Im Landesinneren sind zahlreiche Brücken zerstört und Straßen stellenweise unpassierbar. Auf den ersten Appell an die internationale Solidarität haben bisher Kuba, Mexiko, Schweden, die Sowjetunion, die UNO und die EG mit Hilfsangeboten reagiert.

Bereits am Donnerstag war der nationale Notstand ausgerufen worden. Der Verfassungsartikel, der die Pressefreiheit garantiert, wurde außer Kraft gesetzt. Mit der Begründung, man müsse jeder Panikmache vorbeugen, wurden die Medien angewiesen, sich bei der Berichterstattung über der Hurrikan ausschließlich auf die Informationen der Regierung zu stützen. Mit Hinweis darauf, daß die USA die Notstandsituation zu militärischen Aktionen nutzen könnten, berief Daniel Ortega - zum erstenmal - den Obersten Rat zur Verteidigung des Vaterlandes ein, der dafür sorgen soll, daß die Verteidigungskapazität nicht beeinträchtigt wird. Dieses Gremium, bestehend aus dem Präsidenten selbst, den Ministern für Inneres, Verteidigung und Landwirtschaft sowie Comandante Bayardo Arce, ist personell identisch mit dem Exekutivkomitee der regierenden Sandinistischen Befreiungsfront.

Ob Ortegas Befürchtungen zutreffen, wird sich noch erweisen. Aber zumindest die Contra hat bereits deutlich gemacht, daß sie nicht gewillt ist, auf den nationalen Notstand Rücksicht zu nehmen. In der Nacht zum Sonntag attackierte sie bei Nueva Guinea einen Ambulanzwagen, in dem ein schwerkrankes Kind befördert wurde. Der Fahrer wurde nach ersten Berichten verletzt.

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