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Visionen künstlichen Wohnens

■ Für die einen ist er das Wunderkind moderner Architektur, für die anderen schlicht ein Banause: Zum 101. Geburtstag des „Extremisten der Baukunst“, zeigt das Alte Gymnasium das Spätwerk Le Corbusiers

Er baute im indischen Chandigarh und am Bodensee, er plante in Moskau und in Algier: Charles-Edouard Jeanneret, der Architekt, der sich Le Corbusier nannte. Wie kaum ein anderer hat der „Extremist der Baukunst“ die Meinungen polarisiert. Für die einen ist er schlicht das Wunderkind moderner Architektur des 20. Jahrhunderts, für die anderen ein Banause mit Hang zu totalitärem Beton-Wahn.

Mit der üblichen Verzögerung, mit der große Ereignisse in der Hansestadt stattzufinden pflegen, erinnert sich nun die Hochschule für Kunst und Musik des Meisters zu seinem 101. Geburtstag. Eine kleine Ausstellung zum Spätwerk 1945 bis 1965 und Vorträge hal

ten das Erbe des umstrittenen Doyen der Moderne lebendig.

Unter dem Motto „Synthese des Arts“ betont die Ausstellung die Vielfalt Le Corbusiers, der nicht nur Baupläne entwerfen konnte, sondern auch als Zeichner und Essayist reüssierte. Da sich die Exponate auf Le Corbusiers Nachkriegs-Oeuvre beschränken, fehlen seine provokativen Visionen der Stadtplanung, etwa der „Plan Voisin“ von 1925: Der gesamte historische Stadtkern von Paris sollte nach seinen Plänen abgerissen und an Stelle der Boulevards 18 jeweils 200 Meter hohe Superwohntürme entstehen.

Von solcher städtebaulicher Ignoranz sind die im Alten Gym

nasium gezeigten späteren Arbeitsproben des Meisters frei. Seine „Unites d'habitations“ stellte sich Le Corbusier freilich als Zellen einer fantastischen „Stadt im Grünen“ vor: Wohn-Wolkenkratzer auf Betonstelzen, die in sich alle Funktionen einer Kleinstadt vereinigen.

„Sonne, Raum und Grünflächen! Wenn Sie wollen, daß Ihre Familie in der Intimität, in der Stille und naturgemäß lebt“, schrieb Le Corbusier, „tun Sie sich zu 2000 Personen zusammen, gehen durch eine einzige Tür zu vier Liften für je 20 Personen. Die Häuser werden 50 Meter hoch sein. Die Stadt wird im Grünen liegen, und auf dem Dach befinden sich Kinderkrippen.„

Le Corbusier hat solche „Unites“ tatsächlich gebaut. 1946 entstand in Marseille auf Säulen ein schlanker Wohn-Quader mit 337 Wohnungen. Die einzelnen Wohneinheiten waren wie überdimensionale Schuhkartons in das Betonskelett gestellt worden. Der besondere Pfiff: Aus nur drei Grundelementen ließen sich bis zu 23 Wohnungs-Typen kombinieren. Manche Wohnungen gingen über zwei Etagen und verbanden so Elemente des traditionelle Einfamilienhauses mit den Prinzipien einer Wohnanlage. In den Unites verwirklichen sich auch soziale Ambitionen des Architekten: auf dem Dach und in der 7. und 8.Etage waren prologements du logis genannte gemeinnützige

Einrichtungen untergebracht: Kinderkrippe, Schwimmbad, Solarium, ein „Hotel“ für Besucher, Läden und ein Restaurant.

Ausführlich dokumentiert die Ausstellung auch Le Corbusiers Kirchenbau von Ronchamp (1950). Die exzellenten Fotos geben einen Eindruck, was man aus Beton - dem Werkstoff der Moderne - mit Phantasie machen kann. Ronchamp ist vielleicht der überzeugendste Beweis jener von Le Corbusier angestrebten „Synthese des Arts“.

Günter Beyer

bis 10. 11. Mo-Fr, 11-19 Uhr, Sa + So, 10-13 Uhr.

27.10.: „Le Corbusier und Deutschland„; 3.11.: „Le Corbusier - Synthese des Arts“.

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