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Prozessuale Mißgeburt

■ Gestern begann der Prozeß gegen einen von 17 türkischen Radio-Bremen-Besetzern Zeuge: „Die waren total friedlich“ / Staatsanwalt wollte gegen Geldbuße einstellen

Die Schuld hat ein kleiner Mann mit Bart und Brille. Tontechniker Volker O. hatte am dritten Mai, als türkische Revolutionäre ein Radio-Bremen-Studio besetzten, auf den Alarmknopf gedrückt. „Es klingelt beim Empfang und gleichzeitig auch bei der Polizei“, schätzte O. gestern als Zeuge die Folgen seines Knopfdrucks ein. Das Sondereinsatzkommando rückte aus, umstellte das Funkhaus und ließ keinen der „Besetzer“ laufen, dessen Personalien sie nicht festgestellt hatte. So begann ein Verfahren, das in Bremen kaum jemand will, und das dennoch unaufhaltsam seinen Lauf nimmt. Auch gestern scheiterten alle Versuche des Gerichts, den Prozeß einzustellen.

Zur Erinnerung: Am Abend des dritten Mai waren 17 Angehörige türkischer revolutionärer Gruppen in einen Regie -Raum

und ein Sendestudio des Funkhauses eingedrungen. Dort wurde gerade die türkische Regionalsendung „Biz Bize“ ausgestrahlt. Die Demonstranten schalteten die Sendung ab und verlangten, daß eine Protesterklärung gegen den Polizeiterror an türkischen Universitäten über den Sender verlesen wird. Die Radio-Bremen-Mitarbeiter lehnten ab. Programm-Direktorin Karola Sommerey und Intendant Karl-Heinz Klostermeyer handelten mit den Revolutionären aus, daß ihre Erklärung am folgenden Tag über den Sender gehen sollte.

„Mit Gewalt genötigt“, hätten die Demonstranten den Sender, schrieb Bremens politischer Staatsanwalt Hans Georg von Bock und Polach in einem Strafbefehl, der Grundlage der gestrigen Gerichtsverhandlung war. Zeuge Volker O., der den Alarm

knopf drückte: „Gewalt ist keine angewendet worden“. Die „Gäste“ wären „total friedlich“ gewesen. „Ich will nicht gerade sagen: nett, aber wir haben die ganze Zeit diskutiert.“

Nur am Anfang, erinnerte sich Volker O. gestern, habe er etwas Angst gehabt: „Es hätten ja auch Terroristen sein können mit Handgranaten in der Tasche.“ Als einer der „Gäste“ Volker O.s Drehstuhl etwas vom Mischpult wegschob, da habe er vorsichtshalber auf den Alarmknopf gedrückt.

So kam das Verfahren in Gang, das Halil K.s Verteidiger Gerhard Baisch gestern als „prozessuale Mißgeburt“ bezeichnete. Staatsanwalt von Bock will es wohl durchstehen, fühlt sich aber von oben gebremst. Mit Bitterkeit beschwerte er sich, daß versucht worden sei, das Verfahren vor

Prozeßbeginn „über die politische Hintertreppe“ zu Fall zu bringen.

Tatsächlich haben die Anwälte der Angeklagten bei Justizsenator Volker Kröning auf eine Einstellung des Verfahrens hingewirkt, seitdem einer der Angeklagten, Ahmed Güler, als politischer Gefangener in der Türkei inhaftiert ist. Kröning soll kein Helhl daraus gemacht haben, daß er das Verfahren lieber heute als morgen beendet sähe. Das mag auch der Grund gewesen sein, daß Staatsanwalt von Bock sofort eine Enstellung des Verfahrens gegen Geldbuße anbot. Er ließ sich auch von 1.200 auf 400 Mark herunterhandeln. Doch der Angeklagte spielte nicht mit, er verlangt einen Freispruch. Der Prozeß wird am kommenden Freitag um 13 Uhr im Zimmer 351 des Amtsgerichts fortgesetzt.

mw

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