: HAVANNA IST NICHT FLORENZ
Havanna? - Die schönste Stadt der Welt, hier kann jeder frei leben!“ Der alte Kellner arbeitet in einem Lokal, das auf den ersten Blick so gar nichts Cubanisches zu bieten hat. Der Schnellimbiß in der heruntergekommenen Altstadt heißt „Pizzeria Europa“, und ein im Reiseführer angekündigtes Nationalgericht wie Reis mit Bohnen sucht man auf dem angeschlagenen Speisezettel vergebens. Für die zahllosen Habaneros, die hier zwischen Arbeit, Einkauf und Heimweg ihren Hunger stillen, werden Pizza, Spaghetti und auch Lasagne angeboten. Die Nudeln sind nicht gerade das, was der deutsche Toskana-Kenner al dente nennt, doch das dürfte die schwarzen Revolutionssoldaten am Tresen ebensowenig interessieren wie die junge Mutter, die ihren Sprößling füttert.
Havanna ist nicht Florenz, will heißen, alles andere als eine klassische Schönheit für abendländische Geschmäcker. Verfallene Prachtbauten kolonialer Epochen und triste Hochhausklötze, die amerikanische Investoren in den fünfziger Jahren in das Stadtbild pflanzten, leiten das Auge und vermitteln das Bild einer x-beliebigen Großstadt. In dreißig Jahren sieht Frankfurt am Main sicher so ähnlich aus.
Auf der Suche nach der karibischen Heiterkeit fahren wir mit dem Aufzug in den achtzehnten und letzten Stock des „Havanna libre“, dem besten Hotel der Stadt. Die Bettenburg im Neubauviertel Vedado ist ein ehemaliges Hilton-Hotel, und betuchte Amerikaner sollen hier einst ihren kapitalistischen Lastern und Lustbarkeiten nachgegangen sein. Unter dem Dach des Hauses angekommen, ist der Westen auch gleich wieder unter sich. Bundesdeutsche Bäuche lümmeln am Bar-Tresen und kippen Cocktails. Der einzige Cubaner ist der Kellner. In bayerischer und hessischer Mundart wird die „herrliche Aussicht“ gelobt. Cuba, die billigste Karibik-Insel, fehlt heute in keinem Katalog mehr. Das wahre Leben ist woanders.
Zum Beispiel am Playa del Este, Havannas Stadtstrand, an einem Sonntagnachmittag: Handtuch reiht sich nahtlos an Handtuch, und neben dem Picknickkorb gehören auch Transistor und Kassettenrecorder zur Grundausstattung. Die Sender servieren pausenlos Salsa, aus hundert Lautsprecherboxen ein polyrhythmischer Cocktail, der hier keinen kalt läßt. Ob Big Mama im blumenbunten Strandkleid oder braungebrannter Adonis im knappen Badedreß - wippende Hüften und Hintern überall. Wohin man blickt, die Großstadt tanzt. Die beiden jungen Habaneros nebenan, die sich ihren Strandnachmittag mit rosaroter Zuckerlimonade und pappigen Brötchen versüßen, haben uns gleich als Ausländer identifiziert. „Ah, Germany!
-federal or democratic?“ fragt einer der beiden. In Dresden hat er mal einige Monate als Maschinenschlosser gearbeitet, doch das war nicht sehr nach seinem Geschmack. Die Menschen und das Wetter. Sozialismus auf Cuba sei eben ganz etwas anderes. In der Tat, Strandszenen wie am Playa del Este wird man an der Ostsee vergeblich suchen.
Auf der Rampa, Havannas Prachtstraße in der Neustadt, bekommt man einen weiteren Eindruck davon, was mit dieser Art Sozialismus gemeint sein könnte. Dort, wo alljährlich der Karneval entlangtobt, befindet sich das Restaurant „Prag“ neben dem Aeroflot-Büro, das Kino zeigt eine polnische Filmreihe, und der Abgasgestank von Ladas und russischen Bussen legt sich auf die Zunge. Auch wenn Lenins Enkel hier ihre Visitenkarte abgeben, die Rampa hat mit der aufpolierten Tristesse mancher Ostblock-Boulevards etwa soviel gemeinsam wie der cubanische Winter mit dem russischen. Menschen von hellblaß bis tiefschwarz bevölkern die Straße, alle haben es eilig und bewahren dennoch im überfülltesten Bus Disziplin und Höflichkeit. Wem das noch nicht cubanisch genug ist, der läuft die Rampa ein paar hundert Meter weiter bis zur Coppelia, einer riesigen Eisdiele in einer winzigen Parkanlage. Mit etwas Geduld bekommt man hier das beste Speiseeis seines Lebens.
Doch das Schlangestehen gehört hier wie überall in Havanna zum Alltag. Sei es in einem Geschäft, vor der Coppelia oder im Restaurant. Als Ausländer abseits der ausgelatschten Touristenpfade auf Nahrungssuche, bekommt man die Macht von Türstehern und Oberkellnern zwangsläufig irgendwann einmal zu spüren. Doch mit etwas Spanisch und ohne westliche Arroganz sind auch solche Wächter der öffentlichen Ordnung kein unüberwindliches Hindernis, zumal wenn man sich an den Kulturtechniken der Habaneros orientiert. Die bewahren noch vor der größten Menschenschlange die Ruhe und fragen höflich „Sind Sie der Letzte?“, wenn sie auf die wartende Menge zutreten.
„Kapitalisten aller Länder kommt zu uns - Wir haben keine Angst vor Euch!“ verkündet rot auf weiß ein riesiges Plakat in Havannas einziger Fußgängerzone. Was derart schrill klingt, ist nichts weniger als ehrlich. Freundlich, doch nicht devot, interessiert, aber nicht ohne Nationalstolz, treten die meisten Cubaner den Exoten aus dem kapitalistischen Ausland gegenüber.
Auf dem abendlichen Malecon, der sechsspurigen Uferstraße und Hauptverkehrsader, bevölkern angelnde Senioren und zahlreiche engumschlungene Pärchen die Promenade. Die alten Männer und das Meer gibt es natürlich nicht erst seit Hemingway. Die Liebenden an freier Seeluft dagegen sind ein eher neuzeitliches Problem, nämlich Opfer der akuten Wohnungsnot. In der ständig wachsenden Metropole können sich nur wenige junge Leute eine eigene Wohnung leisten. Doch die Regierung ist um Abhilfe bemüht: Einige Dutzend Pensionen im Stadtgebiet sind eigens für die Jungverliebten eingerichtet und bieten für einige Pesos stundenweise einen Zufluchtsort vor familiärer Enge und Kontrolle. Eigenes Bettzeug ist mitzubringen.
Hinter dem Malecon führt der Weg auf verschlungenen Straßen und Gassen in die Altstadt. Auch wenn die UNO diesen Bezirk zum städtebaulichen Kulturdenkmal erhoben hat und Geld für die Restaurierung locker macht, die abbröckelnden Fassaden der wuchtigen Palazzi beweisen, daß noch nicht viel geschehen ist. Nur die Plaza de la Cathedral und die Plaza del Armas im Zentrum des historischen Teils sind - klein aber fein - auf Hochglanz gebracht worden und natürlich Tummelplatz tourististischer Aktivitäten. Die vermeintliche Kathedrale, eine Hinterlassenschaft der spanischen Kolonialherren, erweist sich als kleinwüchsige Barockkirche. Der Katholizismus stößt in Cuba auf nicht allzu großes Interesse; beim abendlichen Gottesdienst verlieren sich gerade zwei Dutzend Besucher im Kirchenschiff, einige davon sind unverkennbar Touristen.
In der berühmten Bodeguita del Medio gleich um die Ecke herrscht ungleich größerer Andrang - kein Wunder, denn hier werden weltliche Genüsse angeboten. Noch bevor die Bar am Abend ihre Pforten öffnet, warten zahlreiche Gäste auf Einlaß in das legendäre Etablissement. Hemingway hat hier mit seinen Kumpanen die Nächte durchgezockt und manches Glas auf die cubanische Revolution geleert. Das ist lange her. Am Tresen sitzen keine berühmten Kosmopoliten mehr, sondern Pauschal-Urlauber und einheimische In-crowd. Die Wände sind übersät mit Autogrammen, Notizen, Fotodokumenten und Zeitungsausschnitten früherer Jahrzehnte. Das macht melancholisch und erinnert an Zeiten, in denen Neckermann ein Fremdwort, die Revolution noch jung und morgenrot und die Schriftsteller noch ganze Kerle waren. Doch nichts bleibt, wie es war. Auch in Havanna nicht.
Martin Jahrfeld
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen