: Nichts unter 500 Prozent Aufschlag
Inflation in Brasilien: Die Kaufkraft verdunstet einfach / Löhne werden oft zurückgehalten / Offizielle Zahlen geschönt / Kindergärten müssen umziehen, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen können / Inflationäre Tendenz der Inflation / Täglich steigt der Dollar / Staatskassenobligation als Ersatzwährung ■ Aus Brasilien Th. Kesselring
Porto Allegre (taz) - Die brasilianische Inflation hat sich in den letzten Monaten enorm beschleunigt. Die Regierung behauptet zwar, die durchschnittliche Teuerung der letzten Monate habe um die 20 Prozent im Monat betragen. Preisvergleiche lassen jedoch darauf schließen, daß die wirkliche Inflation weit höher ist. Ein paar Beispiele: Die Kosten eines Inland-Flugtickets haben sich in den letzten drei Monaten gut verdoppelt. Fast verdoppelt haben sich in diesem Zeitraum auch die Tarife der öffentlichen Verkehrsmittel in den größeren Städten. Die Monatsbeiträge der größten privaten Krankenversicherungsgesellschaft haben sich sogar verdreifacht, und schleißlich gibt es einige Haushaltsartikel, die sich im gleichen Zeitraum im Preis vervierfacht haben.
Wer ernsthaft Preisvergleiche anstellt, muß die Situation von Monat zu Monat als beängstigender empfinden. Nicht nur, daß die Inflation außer Kontrolle zu geraten droht. Auch Kurven der Dollar-Wechselkurse werden in letzter Zeit immer extravaganter. Täglich steigt der Dollar, und die Kluft zwischen offiziellem und „parallelem“ Kurs nimmt mit raschem Tempo zu.
Der Dollar gilt zwar im brasilianischen Außenhandel als Zahlungseinheit. Doch ist die amerikanische Währung keineswegs, wie man in Europa des öfteren hört, so etwas wie eine geheime Ersatzwährung innerhalb Brasiliens. Eine solche Ersatzwährung gibt es indessen, und sie nimmt in der gegenwärtigen Krise stark an Bedeutung zu. Ihr umständlicher Name lautet „obriga?ao do tesouro nacional“ (wörtlich: Staatskassenobligation) und wird mit „OTN“ abgekürzt. Die OTN erhöht sich allmonatlich im genauen Verhältnis zur offiziellen Teuerungsrate des Vormonats. Waren werden inzwischen in OTN berechnet wie auch höhere Gehaltsstufen.
Löhne laufen hinterher
Das vielleicht markanteste Merkmal an der derzeitigen brasilianischen Inflation ist ihre eigene inflationäre Tendenz. Die Teuerungsraten nehmen in hastigem Tempo zu, auch wenn die Regierung mit allen Mitteln versucht, diese Tatsache zu verschleiern.
Zweites Merkmal: Die Löhne bleiben hinter der offiziellen Inflation zurück. Zwar werden die Gehälter im allgemeinen monatlich nach einem gewissen Schlüssel der Inflation angepaßt. Dieser Schlüssel (er trägt die Bezeichnung „Unidade de Referencia de Pre?cos“, kurz URP) ist im August 1987 erfunden worden. Er legt fest, daß die Löhne monatlich um denjenigen Prozentsatz erhöht werden sollen, die die Durchschnitts-Inflation während der drei vorhergehenden Monate aufgewiesen hat. Da sich seit dem Erlaß der URP die Inflation beschleunigt hat, bleiben die Lohnerhöhungen systematisch um denjenigen Betrag hinter der Teuerung zurück, um den sich diese in der Zwischenzeit erhöht hat. Im Klartext: Die offizielle Inflation betrug zwischen August 1987 und August 88 um die 500 Prozent, die durchschnittlichen Lohnanpassungen im gleichen Zeitraum beliefen sich aber nur auf 280 Prozent. Die Löhne klettern weit weniger rasch in die Höhe als die Preise.
Über den folgenden (dritten) Aspekt der Inflation gibt die angeführte Statistik keine Auskunft: Die Lohnerhöhungen gemäß URP werden nicht mit pedantischer Regelmäßigkeit jeden Monat ausbezahlt. Je nach Branche werden die Gehälter mitunter eingefroren, bald für kürzere, bald für längere Zeit. Das hängt nicht zuletzt vom Ausgang der regelmäßig mit solchen Vorkommnissen verbundenen Streiks zusammen. Im Falle der Gehaltserhöhung am Ende einer Einfrierungsperiode gibt es wieder mehrere Möglichkeiten: Entweder wird nur die Kompensation des letzten voraufgehenden Monats ausbezahlt oder die der ganzen Einfrierungsperiode. Auch der Zeitpunkt, zu dem der fällige Betrag vergütet wird, ist keineswegs einheitlich. Es kann passieren, daß er erst nach drei, vier Monaten auf dem Konto des Arbeitnehmers erscheint - je länger der Verzug, desto gründlicher arbeitet sich der Unternehmer in die eigene Tasche.
Auch noch ein weiteres (viertes) Faktum geht aus keiner Statistik hervor: Es ist in Brasilien keine Seltenheit, daß bei Antritt einer neuen Stelle oder bei Stellenwechsel der erste Lohn einige Monate auf sich warten läßt. Ein Inflationsausgleich ist bei verspäteten Zahlungen dieser Art nicht zu erwarten. Vier Lehrer, die seit März 1988 in einer Favela von Porto Allegre Alphabetisierungskurse durchführen und dafür von der „Funda?ao Educar“ je zwei Minimalgehälter (80 Dollar) pro Monat versprochen erhielten, mußten schließlich in den Schulferien vom Juli eine Bittreise nach dem 1.900 Kilometer entfernten Brasilia antreten, ehe ihre Gehälter von März bis Juli ausbezahlt wurden. Deren Kaufkraft war in der Zwischenzeit freilich um mehr als die Hälfte buchstäblich verdunstet.
Daß es immer böser Wille oder Profitgier ist, was solche Verzögerungen bewirkt, ist eine bloße Vermutung, und vielleicht nicht einmal die wahrscheinlichste. Denn eine große Rolle spielen auch Ignoranz und Gleichgültigkeit bei Beamten und Schreibkräften (die, wer weiß, vielleicht nicht einmal alle voll alphabetisiert sind?). Schließlich leidet das Arbeitsethos auch auf den Ämtern unter der Mickrigkeit der dort üblichen Löhne.
Was die Inflation der letzten zwölf Monate betrifft, so gibt schließlich noch eine weitere (fünfte) Tatsache zu denken: Die offiziellen Statistiken gehen, wie erwähnt, von einer Inflation von etwa 500 Prozent aus. Wer sich jedoch im August und September 87 bei den Preisen etwas umgesehen hat und sie mit denjenigen von August und September 88 vergleicht, kommt auf ganz andere Zahlen: Ein halbes Kilo Brot kostete damals 23, heute 225 Cruzados. 500 Gramm Kaffee stiegen von 69 auf 600 Cruzados, Zeitschriften wie 'Veja‘ und ähnliche (brasilianische Entsprechungen zum 'Spiegel‘) von 50 auf 500 Cruzados und die Inlands-Briefgebühren von drei auf 28 Cruzados. Selbst die öffentlichen Verkehrsmittel weisen Preissteigerungen von zwischen 900 und 1.000 Prozent auf. Artikel, die in den letzten zwölf Monaten weniger als 500 Prozent aufgeschlagen haben, gibt es kaum.
Seit jeher Inflation
Die Inflation ist in den lateinamerikanischen Ländern angeblich seit jeher allgegenwärtig. Gemessen an den heutigen Werten war sie jedoch lange Zeit unbedeutend. Erst mit der Wende zu den sechziger Jahren, also (wohl nicht zufällig) zu dem Zeitpunkt, da Brasilien mit dem Beton -Eldorado BRASILIA eine neue Hauptstadt erbaute und sich dafür erstmals in großem Stil Auslandsschulden auflud, zog die Inflation an und erreichte 1961 20 Prozent, 1962 40 Prozent und 1963 80 Prozent. Für 1964 wurde eine Rate von über 100 Prozent erwartet, und das war einer der Gründe, die zum Militärputsch vom 31.März jenes Jahres führten. Mit geringem organisatorischem Talent, aber umso höherem Selbstbewußtsein nahm die Militärregierung eine Reihe größenwahnsinniger Projekte in Angriff, von denen einige auch heute noch weit von ihrer Fertigstellung entfernt sind: Den Riesenstaudamm Itaipu am Parana, die Stahlwerke in Minas Gerais und die erst teilweise abgeschlossene, teilweise noch gar nicht begonnene Eisenbahnlinie zum Stahltransport durch schwieriges Berggelände ans Meer; eine Ost-West-Achse durch den Amazonas, deren fertiggestellte Teilstücke der Urwald bereits partiell wieder zurückerobert hat; und, last not least, das deutsch-brasilianische Atom-Programm der siebziger Jahre, das bis heute noch zu keiner einzigen Kilowattstunde Atomstrom geführt hat. Löhne wurden bezahlt, ohne daß entsprechendes Produktivkapital gebildet worden wäre. Die Inflation zog deshalb weiter an, und die Ausland -Schulden vervielfachten sich.
Plano Cruzado
Gegen Ende der Diktatur (in den Jahren 1980-1985) wurde die Steigerungskurve des Preisindexes indessen noch steiler und stieg von 100 Prozent auf 250 Prozent im Jahr. Daher der Beschluß der folgenden Zivilregierung Sarney vom 28.Februar 1986, die Inflation mit Hilfe eines sogenannten „hetedoxen Schocks“ zu bremsen. Die Maßnahme, zu der der damalige Finanzminister Dilson Funaro griff, ist unter dem Titel „Plano Cruzado“ in die Wirtschaftsgeschichte Brasiliens eingegangen. Die Preise wurden zum 1.März eingefroren und anstelle des Cruzeiro der Cruzado eingeführt: 1.000 Cruzeiros galten nun als ein Cruzado. In den ersten Tagen und Wochen nach Einführung des Plano Cruzado soll ganz Brasilien in einer Euphorie gewesen sein. Als Anfang März 1986 ein Supermarkt in Curitiba die Preise einiger Waren erhöhen wollte, sorgten aktive Kunden „im Namen des Volkes“ dafür, daß er geschlossen wurde. Das günstigere Verhältnis zwischen Löhnen und Preisen ermöglichte es in den folgenden Monaten auch denjenigen Brasilianern, die gewohnt waren, den Gürtel eng zu schnallen (und das ist die überwiegende Mehrheit), herzhafter als sonst zu konsumieren. Andererseits: Brasilien hat zwar fast soviele Rinder wie Einwohner; trotzdem trat eine Fleischverknappung ein. Die Farmer, die sich wegen des Preiserhöhungsverbots um ihren Profit geprellt fühlten, fingen im August 86 an, ihr Fleisch zurückzuhalten. Im Bundesstaat Rio Grande do Sul wurden Tausende von Rindern ins angrenzende Ausland getrieben. Die Fleischerabteilungen der Supermärkte waren auf einmal leer.
Regierung zu schwach
Die Parlaments- und Gouverneurs-Wahlen vom November 1986 bestätigten mit eindrücklicher Mehrheit die Regierung Sarney, der man die erfolgreiche Inflationsbekämpfung dankte. Eine knappe Woche später jedoch ließ der Präsident, entgegen allen vorhergehenden Beteuerungen, die Preise in den staatlichen Unternehmen erhöhen und erlaubte den Privatbetrieben ein gleiches. Damit trat der „Plano Cruzado“ in die Phase der Agonie. Bis zum Frühjahr 1987 holten die Unternehmer an Preissteigerungen nach, was sie während eines Jahres versäumt hatten. Im Mai 1987 erreichte die offizielle Inflation 28 Prozent, den höchsten Wert in der Geschichte des Landes. Einen Monat später verkündete der Präsident mit dem „Plano Bresser“ einen neuen Preisstopp - vergeblich. Im August betrug die Inflation bereits wieder drei Prozent. Bedenkt man, daß die Inflation vom Juli 88 (nach derjenigen vom Mai 87) die zweithöchste der Geschichte Brasiliens war und daß die Benzinpreise erst nach dem für die Inflationsmessung angesetzten Stichdatum erhöht wurden, unter der von Juli gehalten werden konnte, so verspricht die nahe Zukunft wenig Gutes. Die Regierung Sarney ist zu schwach, um noch einmal eingreifen zu können. Der Präsident hat seine Glaubwürdigkeit verloren. In den dreieinhalb Jahren seit Sarneys Regierungsantritt hat dieser zweimal Preisstopps verfügt, und zweimal ist die Maßnahme gescheitert.
Facettenreiche Ursachen
Über die Ursachen der Inflation in Lateinamerika hört man in Europa etwa die Ansicht: Die Regierungen sind eben sehr korrupt. Oder: Die Staatsbanken produzieren eben zu viel Geld. Das alles ist zwar nicht falsch, bleibt aber völlig an der Oberfläche des Phänomens. In Wirklichkeit handelt es sich um einen facettenreichen Ereigniskomplex.
Wenn die Inflation einmal Tradition hat, kann ihr Wachstum, mindestens teilweise, spieltheoretisch erklärt werden: Jeder Produzent, der bei der Planung der künftigen Preise seiner Waren vor der Alternative steht, sie stabil zu halten oder zu erhöhen, wird sie erhöhen, um nicht als Einzelner zu verlieren, wenn alle anderen die Preise erhöhen. Und da jeder weiß, daß alle erhöhen werden, ohne freilich genau zu wissen, um wieviel, wird jeder versuchen, ein Optimum herauszuholen.
In der brasilianischen Presse werden mitunter auch ganz andere Erklärungen angedeutet: Das Land hat neben der horrenden Auslandverschuldung (ca. 120 Milliarden Dollar) eine wohl kaum geringere Inlandverschuldung. Institutionen und Betriebe, die Geld benötigen und sich nicht vom Diktat der nationalen Bank abhängig machen wollen, können auf einer Art öffentlichem Lombardkredit-Markt ihre Titel verkaufen. Die Zinsen dieses Marktes liegen im allgemeinen deutlich höher als die bankenüblichen Sparzinsen und werden täglich neu festgesetzt. Die gehandelten Titel haben allerdings den Nachteil, längst nicht mehr gedeckt zu sein. Sie übersteigen das zur Deckung verfügbare Kapital bis zum Zwanzigfachen. Von den hohen Zinsen, die den „over“ in Bewegung halten, geht ein Sog aus, der die Preise naturgemäß eher nach oben als nach unten treibt.
Viele Familien versuchen beispielsweise, ihre Wohnung zu halten, indem sie den Lohn aller arbeitenden Familienmitglieder zusammenlegen. Vielfach werden Minderjährige angehlaten, aus der Schule wegzubleiben, und zum Arbeiten geschickt. Wer seine Wohnung trotzdem nicht mehr finanzieren kann, muß sich eine billigere suchen. Wer keine findet, wird sich eine Hütte in einer Favela am Stadtrand zusammenzimmern. Bei privaten Kindergärten ist es keine Seltenheit, daß sie in kurzen zeitlichen Abständen umziehen, weil eine Mieterhöhung sie vom alten Ort vertreibt... Der Kunde, der im Supermarkt die Waren unmittelbar vor ihrer Neubezifferung aus den Regalen reißt, ist eine alltägliche Erscheinung. Wo der neue Preis über oder neben den alten geklebt wird, knibbelt ihn der Kunde sorgfältig wieder ab. Manche Haushalte tun sich zu Einkaufsgemeinschaften zusammen, die in Arbeitsteilung die verschiedenen Ladenketten nach Sonderangeboten durchforsten. - Trotz allem ist es unausbleiblich, daß auch die Abfalltüten nach Eßbarem durchsucht werden, ehe die Kehrichtabfuhr vorbeikommt.
Szylla und Charybdis
Die Brasilianer erschrecken zwar täglich über irgendeine Preissteigerung, aber sie verlieren auch leicht den Überblick über das in manchen Branchen unterschiedliche Teuerungs-Gefälle. Im Binnenland und in den urbanen Randzonen liegen im allgemeinen die Preise privater Dienstleistungen günstiger als in den Stadtzentren, und die Preissteigerungen sind entsprechend menschenfreundlicher: Die Gefahr, die Kundschaft zu verlieren, ist ebenso real wie die Gefahr, von der Inflation überrollt zu werden. Jeden Tag erleiden bei dem Versuch, zwischen Szylla und Charybdis hindurchzusteuern, Kleinunternehmer Konkurs.
Die kleinen Betriebe sind den großen nicht zuletzt auch aus dem unscheinbaren Grund unterlegen, daß sie es sich personalmäßig nicht leisten können, die in Form von Schecks eingegangenen Zahlungen täglich bei den diversen Banken geben Bares einzutauschen. Der Versuch, inflationsbedingte Verluste zu minimieren, kostet in Brasilien allerdings eine gute Portion Zeit. An manchen Tagen stauen sich vor den Bankschaltern lange Menschenschlangen und verstopfen in wirrem Zickzack Eingangshallen und Korridore: So etwa zum Monatsende, wenn die Löhne eingegangen sind, oder an gewissen Stichtagen zu Monatsbeginn, wenn bestimmte Zahlungsfristen ablaufen: Wer die Schlange scheut und später zahlt, hat eine Zusatzgebühr von 20 bis 30 Prozent als „Strafe“ oder „Inflations-Ausgleich“ zu entrichten. Die Teuerung ist sozusagen die Saugpumpe, die aus den Arbeitnehmern herauspreßt, was aus ihnen herauszupressen ist.
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