: Anti Auto, für Fahrrad
■ Georg Kaiser (1878-1945), einer der meistgespielten Dramatiker der 20er Jahre Heute ist er vor allem noch als Autor von „Gas“ in Erinnerung
Das Fahrrad ist die abenteuerlichste Erfindung des menschlichen Geistes. Wie jeder großartige Einfall ist er sofort vollkommen da und duldet keine Verfeinerungen. Der Modellplan könnte dem Haupt der Athene entsprungen sein gleich göttlich fertig und gebrauchsfähig.
Multiplikation der Eigenbewegung. Auf eiligerer Wanderschaft der Mensch. Nomadisches Entzücken.
Ausradiert von der zerfetzten Erdkruste sind die vulgären Landstraßen, die Urlandschaft wächst wieder auf, schmalste Pfade dringen ins Dickicht, lautlos befahren. Kein Stapfen von Schritten - keine Langsamkeit des Fußmarsches. Schnelleres Versinken in Einsamkeit - Verschollenheit.
Auch die Luft wird lebendig. Ein kräftigerer Druck auf die Pedale - und die Ruhe der Luft verwandelt sich in strömenden Wind. Es geschieht ein wahres Zauberkunststück. Anders kann ich es nicht nennen.
Längst bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß der Menschheit das Fahrrad geschenkt ist als Äquivalent für alle Plagen der Technik. Erbarmungsvoll ist ihr aus dem technischen Kollektiv - da es kein seelisches gibt - ein Weg in die Isoliertheit geöffnet. Das Fahrrad inthronisiert die Privatperson. Es macht sie unabhängig von Hilfsmitteln. Der Radfahrer tritt zu - und distanziert sich. Zweifellos ist er eine gefährliche Figur in dieser Gegenwart. Der Konterrevolutionär. Der Antivereinler. Der beschleunigte Individualist. Ein enteilendes sattelfestes ICH.
Sein Antipode ist der Automobilist. Das Wesen mit der Kuppelung. An den Motor, an die öffentliche Fahrrinne, an die Tankstelle. Vor allen Dingen: Er wird gefahren - er fährt nicht. Schlimmer: Es widerfährt ihm Bewegung, die seine Muskulatur nicht erzeugt. Der Akt der Schöpfung ist nicht entzogen - ein Witz von Schnelligkeit ist an seine Stelle gesetzt. Die Funktionen des Daseins sind annulliert, und statt Blut pulst Benzin. Um ihn herum riecht es nach Chemie.
Der Automobilist hat sich die Erde verkleinert und des Abenteuers der Abwege beraubt. Er braucht Landstraßen. Die schwarzen harten allgemeinen Gleise, von denen es kein Abweichen gibt. Sein Kopf denkt Tanken. Sein Einmaleins zählt Kilometer. Ein Schrumpfungsprozeß vollzieht sich in seinem Hirn, der ihn zum vollendeten Typus dieser Gegenwart stempelt. Der abhängig bewegte Mensch - die Kollektivkreatur der Maschinerie.
Der Automobilist hat viele Vorschriften zu beachten. Denn er fährt, wo viele fahren. Es bereitet ihm Anstrengung nicht zu karambolieren, Fußgänger nicht anzurempeln, Hunde und Hühner nicht zu zermalmen. Mit solchen Problemen schlägt er sich herum - und da sie ihn anstrengen und ermatten, glaubt er wichtige Leistungen vollbracht zu haben. Nichtruinieren bedeutet ihm schon Schaffen. Das verirrteste Kind zwischen Wiesen und Wäldern.
Sein abscheulicher Zwilling befährt die Wasserflächen im Automobilboot. Schon fährt er nicht mehr - er gleitet flugs. Unter Gestank und Geknatter. Sein Bemühen, die Weite der Welt zu verengen, ist ebenso erfolgreich wie die des Landautomobilisten. Die äußere und die innere Welt. Das blaue Wunder der Technik hat sich kraß ereignet.
Für den, der auf dem Fahrrad fährt, gelten keine Vorschriften. Der Radfahrer empfiehlt sich höflich, aber bestimmt. Mit festem Antritt entfernt er sich um die Ecke, und hinter dem Waldrand unterliegt er keiner Kontrolle für Tempo und Fahrtrichtung. Er wird freier Nomade. Schweifender Welterweiterer. Er rehabilitiert die Schöpfung. Er löscht auch die falschen Monde aus, die aus Scheinwerfern flammen. Im einzigen echten Mondlicht kann er sich befördern. Ohne verlogenes Gas - aus eigener Kraft, mit der er Beschleunigung und Verminderung seiner Schnelligkeit bestimmt.
Der Mensch muß viel erfahren haben, um klug zu werden. Da wir die Technik erleiden mußten, sind wir zweifellos zur größten Weisheit berufen. Nämlich: Querschnitt, Januar 1932 (Heft 1
Georg Kaiser
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