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Rückfall in den Stalinismus unmöglich

■ Wolfgang Leonhard, ehemaliger Stipendiat der Komintern in Moskau und Mitarbeiter Ulbrichts, erlebte auf der Kanzlerreise in die Sowjetunion seine zweite Jugend: Es geht wieder voran im Lande Lenins / Ein Gespräch über Stalinzeit, Ostpolitik und die Unumkehrbarkeit der Reformen Gorbatschows

taz: Als Sie zum ersten Mal seit 42 Jahren vor dem Hotel „Zentralnaja“ standen, dem früheren Hotel „Lux“: Welche Gedanken sind Ihnen durch den Kopf gegangen?

Leonhard: Ich habe mich zunächst an mein eigenes Leben im Hotel „Lux“ vom Sommer 1943 bis zum 30.April 1945 erinnert, an die beiden letzten Kriegsjahre, an die damaligen Vorbereitungen deutscher Kommunisten, an die Situation nach Ende des Krieges, an die neuen Probleme und an die neuen Instruktionen, die wir erhielten. Ich habe vor der Tür gestanden, aus der wir, die zehn Mitglieder der „Gruppe Ulbricht“, am 30.April um sechs Uhr früh herausgingen und dann mit dem Auto bis zum Flughafen fuhren. Aber dann habe ich mich an das Schicksal der Führer der Kommunistischen Internationale und der höchsten Funktionäre erinnert, die in diesem Hotel lebten. Ich habe auch an die Schreckensjahre der großen Säuberung gedacht, wo allein in diesem einen Gebäude hunderte von Menschen verhaftet wurden. Aber dann habe ich mir auch Gedanken gemacht, wer dort alles gelebt hat: Ho Tschi Minh, Tito, La Pasionara, Maurice Thorez, Palmiro Togliatti und viele, viele andere, und da war es für mich sehr eigentümlich zu sehen, daß es kein Schild, keine Erinnerungstafel gab. Nicht alle, die in diesem Hotel wohnten, haben eine positive Rolle gespielt, aber die Geschichte der Kommunistischen Internationale ist ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte des 20.Jahrhunderts. Und ich glaube, im Zeichen von Glasnost und historischer Aufarbeitung braucht man eine Tafel, einfach um daran zu erinnern, was das hier war. Damals hieß dieses Hotel die „Zitadelle der Weltrevolution“, und ein bißchen hatte ich einen Schock, als ich jetzt plötzlich ein Schild sah: „American Express Cards accepted“.

Was haben Sie sich in dem Moment für die Zukunft gewünscht?

Mein wichtigster Gedanke war, daß man nicht nur die sowjetische Geschichte aufarbeiten muß, sondern auch die Geschichte der Kommunistischen Internationale. Ich habe mich sehr gefreut, vorgestern in der 'Prawda‘ einen Artikel über die Kommunistische Internationale zu lesen, mit vielen Namen von Menschen, die umgekommen sind, nicht nur unter dem Faschismus, sondern auch unter dem Stalinismus. Früher oder später - hoffe ich - werden sowjetische Historiker die Geschichte der Internationale schreiben, weder als einseitige Lobpreisung noch als Verdammung, sondern eine objektive Darstellung mit positiven und negativen Aspekten dieser entscheidenden Bewegung. Und bei einer solchen Darstellung braucht man natürlich auch eine Schilderung des Hotels „Lux“.

Wie konnte sich der Stalinsche Terror durchsetzen?

Nur eine ganz kurze Zusammenfassung dieser sehr komplizierten Frage. Erstens: Im Jahre 1924/25 war der revolutionäre Enthusiasmus durch die unglaublichen Entbehrungen des Bürgerkrieges - Hunger, Tod, Seuchen - sehr weitgehend schon erlahmt. Und mit diesem Rückgang dieses Enthusiasmus‘ entstanden schon die Keimzellen bürokratischer Organisationsformen und der Macht bürokratischer Funktionäre.

Zweitens: Der Bürgerkrieg gegen die „weißen“ und ausländischen Interventen machte eine außerordentliche Zentralisierung der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Macht notwendig und auch militärische Arbeitsmethoden. Ich wiederhole: das war notwendig! Aber, nachdem das einmal geschaffen war, konnte man nicht mehr so schnell davon weg.

Drittens: Die Hoffnung auf eine Weltrevolution war seit der Niederlage des deutschen Aufstands vom Oktober 1923 verschwunden. Und damit kam plötzlich die schlimme Erkenntnis, daß man allein auf sich gestellt ist und nicht Teil einer siegreichen Weltrevolution.

Und viertens: Im Januar 1924 starb Lenin und damit jener Führer, der sowohl die revolutionären Kräfte integrierte als auch zu neuen Erkenntnissen der Umgestaltung, zur „Neuen Ökonomischen Politik“ fähig war.

Diese vier Faktoren ermöglichten es Stalin, als Vertreter der Organisationsfunktionäre, der militärischen Arbeitsmethoden, der „Keimzelle der Bürokratie, schrittweise seine Macht zu verstärken und Lenins revolutionäre alte Garde, Bucharin, Kamenjew, Rykow, Tomski, Schljapnikow, Sinowjew, schrittweise zurückzudrängen. Und dann vereinte er allmählich die Macht in seiner Hand und festigte sie als Vertreter eben der bürokratischen Organisationsfunktionärsgruppierung (bürokratisch wie dieser Begriff... d.S.). Dies ermöglichte den Übergang von der revolutionären Herrschaft Lenins zur stalinschen Alleinherrschaft.

Worin erblicken Sie denn Garantien, daß sich der Stalinismus in der Sowjetunion nicht mehr wiederholen kann?

Heute sehe ich folgende Garantien: Erstens in Glasnost, in dem öffentlichen Aussprechen aller Probleme; je intensiver die Diskussion, desto mehr werden die Menschen an die politischen Probleme herangeführt und aktiviert. Zweitens in der Vergangenheitsbewältigung. Immer stärker und deutlicher wird hier jetzt die Geschichte der Sowjetunion aufgearbeitet. Und je mehr diese Geschichte bewußt wird und die damaligen Probleme sichtbar werden, desto mehr erkennen die Sowjetbürger auch die Gefahren, die es noch geben kann, und sind dagegen gewappnet. Drittens die Auflockerung des politischen Systems durch Mehrkandidatenwahlen, Trennung von Partei und Sowjets und die Aufwertung der Sowjets, die zunehmende Bedeutung gesellschaftlicher Organisationen - all dies sind wichtige Instrumente, um zu verhindern, daß eine kleine Gruppe oder eine Person die Macht in sich vereinigt. Und schließlich die gesamte Diskussion über die Rechtsreform. Zum ersten Mal überhaupt wird das Problem des Rechts in einer sozialistischen Gesellschaft offen ausgesprochen. Zum ersten Mal wird diskutiert, wie man die Rechte der menschlichen Persönlichkeit schützen kann. Wie die demokratischen Freiheiten in der Verfassung - die dort nur genannt werden - konkretisiert werden und Gesetze durch Gesetze gefestigt werden können. Zum ersten Mal benennt man das Problem der Verteidiger, der Unabhängigkeit der Gerichte. Das alles zusammengenommen: Glasnost, Vergangenheitsbewältigung, Auflockerung des politischen Systems, Aktivierung der Bevölkerung und rechtsstaatliche Maßnahmen, das sind für mich die Garantien, daß es keinen Rückfall in einen Stalinismus mehr geben kann.

Sie verließen die Sowjetunion als ein für Sie unheimliches Land. Finden Sie heute noch Spuren dieser „Unheimlichkeit“?

Es war für mich keineswegs nur ein unheimliches Land. In meinem Buch Die Revolution entläßt ihre Kinder gibt es zwei Seiten über meine Gedanken, als ich am 30.April 1945 von Moskau nach Berlin flog: das war ein zwiespältiges Bild. Ich war vollkommen auf der Seite der Sowjetunion im Kampf gegen den Hitlerfaschismus, ich war vollkommen von der Idee durchdrungen, eine neue Gesellschaft zu errichten. Ich war im Prinzip dafür! Und gleichzeitig überlegte ich mir: Wie kann es sein, daß es einen solchen Führerkult um Stalin gibt, daß es eine Russifizierungspolitik gibt, bei der die Angehörigen anderer Nationalitäten genau wissen: sie sind zweite Garnitur. Es wurde ja offen gesagt: Das russische Volk ist erstes unter gleichen und die führende Kraft. Dann waren da die Methoden der Selbstkritik in der Partei mit ihrer Entpersönlichung, die großen Privilegien der Funktionäre, die Machtvollkommenheit des Staatssicherheitsdienstes, die große Säuberung von 1938 und der Pakt zwischen Hitler und Stalin, wie man jetzt in der Sowjetunion sagt, der „Ribbentrop-Molotow-Pakt“. All das hat mich gleichzeitig nachdenklich und kritisch gestimmt. Ich fuhr mit einem „Ja“ zu den Grundprinzipien, mit äußerst starken Bedenken gegen all diese Erscheinungen, und hoffte, daß man in der sowjetischen Zone Deutschlands oder vielleicht in ganz Deutschland einen neuen Weg beschreiten werde.

Sie waren seinerzeit gegen das Erdgas-Röhrengeschäft mit der Sowjetunion. Wie beurteilen Sie die Wirtschaftsabkommen, die jetzt während des Aufenthalts von Bundeskanzler Kohl geschlossen worden sind?

Ich war während der Breschnew-Periode sehr kritisch angesichts des damals in der Bundesrepublik herrschenden „Überoptimismus“ und des Nichtzurkenntnisnehmens vieler realer Vorgänge, die sich in der Sowjetunion ereigneten. Es gab die Okkupation der Tschechoslowakei am 21.August 1968. Es gab neue Paragraphen im Strafgesetzbuch zur Verurteilung von Dissidenten. Damals wurden hunderte, vielleicht sogar tausende unter fadenscheinigen Gründen verhaftet. Ich stand der Okkupation Afghanistans sehr kritisch gegenüber, ebenso der Exilierung Sacharows im Januar 1980 und vor allem den unglaublichen und ungerechtfertigten Vorwürfen, die man gegen seine Person erhob. Und ich war sehr kritisch gegenüber der von Breschnew durchgeführten Russifizierung. Damals hatte ich die Befürchtung - und halte sie rückblickend auch immer noch für gerechtfertigt: Wer die Breschnew-Regierung zu sehr unterstützt, schwächt die Reformkräfte, die schon damals eine Umstrukturierung der Wirtschaft befürworteten. Wirtschaftliche Beziehungen mit dem Westen, so meinte ich, würden die autoritär -bürokratischen Kräfte um Breschnew stärken und das Breschnew-Regime würde sie dazu nutzen, um die Wirtschaftsreform zu verschieben.

Ich habe während der Breschnew-Ära in allen meinen Artikeln darauf hingewiesen, daß es Reformkräfte in der Sowjetunion gibt und daß man sie sehr genau beobachten muß: wenn diese Reformkräfte zum Zuge kämen, dann müsse man die eigene Politik gegenüber der Sowjetunion grundlegend ändern. Ich habe damals gegen Egon Bahrs Devise „Wandel durch Annäherung“ polemisiert: Wenn sich die EWG und andere westliche Länder der DDR und der Sowjetunion annäherten, würden die Regime dort stabilisiert und dann würden wirtschaftliche Reformen von alleine kommen. Ich habe gesagt, das wird nicht geschehen und eine umgekehrte Devise formuliert: „Annäherung bei Wandel und mit Wandel“. Sobald in der Sowjetunion Reformen beginnen, muß sich die Politik auf die neue Situation einstellen, die Reformen sorgfältig analysieren, mit Interesse und Zustimmung zur Kenntnis nehmen - und je weiter die Reformen gehen, desto größer sollte die Kooperationsbereitschaft der westlichen Industrieländer sein. Und weil das seit März 1985 geschehen ist, bin ich heute für die Ausdehnung der Wirtschaftsbeziehungen mit der Sowjetunion.

Im Zusammenhang mit dem Projekt einer künftigen KSZE-Runde in Moskau hat der Kanzler indirekt die Hoffnung geäußert, daß die Sowjetunion ihre heutigen politischen Gefangenen freilassen werde. Halten Sie diese Annahme für realistisch?

Die Äußerungen hier in diesen Tagen über erweiterte Anwendung der Menschenrechte und die Freilassung der politischen Gefangenen sind positiv zu werten. Man soll dabei erkennen, daß schon sehr viel in diesem Bereich in der Sowjetunion getan worden ist, und man sollte nicht vergessen, daß während der Breschnew-Ära der Begriff „Menschenrecht“ als eine bourgeoise propagandistische Lösung bezeichnet wurde. Konstantin Tschernenko hat sogar ein ganzes Buch geschrieben, in dem er sich über die westliche Idee der Menschenrechte - er nannte sie tatsächlich „westlich“ - lustig machte, und er bekämpfte sie als „ideologische Diversion“. Heute ist die Situation sehr anders. Seit 1986 sind sehr viele Bürgerrechtler freigelassen worden. Soviel ich weiß, insgesamt 220. Und die Sowjetunion hat selbst vorgeschlagen, hier eine Konferenz über Menschenrechte zu machen. Ich glaube, die Antwort von Bundesaußenminister Genscher war richtig: Die jeweiligen westlichen Länder sollen die ihnen zur Verfügung stehenden Listen mit den Namen solcher Häftlinge hier übergeben. Ich könnte mir vorstellen, daß da in der neuen Situation keine sehr großen Probleme mehr bestehen werden. Ganz sicherlich sind sich die Kräfte in Moskau, die eine solche Menschenrechtskonferenz hier vorschlagen, darüber im klaren, daß man dann selbstverständlich alles offenlegen muß, und das halte ich für ein sehr positives Zeichen. Ich selbst habe in einem Interview gegenüber der 'Iswestija‘ betont, daß man die Kautschukparagraphen 70 und 190/1, die während der Breschnew-Ära gegenüber politisch Andersdenkenden angewandt wurden, zumindest völlig neu juristisch fassen soll, vielleicht aber auch ganz abschaffen.

Der Sowjetische Justizminister Boris Krawzow kündigte vorgestern an, daß der Artikel 190 des Strafgesetzbuches, der sich mit „antisowjetischer Verleumdung“ befaßt, bei der Überarbeitung des Gesetzbuches gestrichen werde. Die Bestimmungen des Artikels 70, bei dem es um „antisowjetische Agitation und Propaganda“ geht, sollten „konkretisiert“ werden. (Anm. d.Red.)

Das Gespräch führte Barbara Kerneck in Moskau

Wolfgang Leonhard

geboren 1921, kam 1935 mit seiner Mutter, einer österreichischen Kommunistin, in die Sowjetunion. Bis 1943 studierte er erst am Institut für Fremdsprachen, danach in der Kominternschule. Leonhard hat diese Epoche später in seinem Buch Die Revolution entläßt ihre Kinder beschrieben: Die Massenrepressalien gegen überzeugte Kommunisten, die Verhaftung seiner Mutter und seiner Lehrer aus der Moskauer Karl-Liebknecht-Schule und seine Deportation nach Kasachstan. Ab 1943 war Leonhard Mitglied des „Nationalkomitees Freies Deutschland“. Nach Kriegsende kam er mit der „Gruppe Ulbricht“ nach Berlin, die als Vorform der zukünftigen DDR-Regierung fungierte. Als Tito 1949 mit Stalin brach, emigrierte Leonhard auf der Suche nach einer besseren Form des Sozialismus aus der DDR nach Jugoslawien. Von dort kam er in die Bundesrepublik. Wolfgang Leonhard hat zahlreiche Werke über die Sowjetunion veröffentlicht und über 20 Jahre lang an der Universität Yale sowjetische Geschichte gelehrt. Heute lebt er in der Eifel.

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