: Wiederaufbau in Rama hat begonnen
■ Der Ort an der Atlantikküste ist fast vollständig zerstört / Expertengruppe plant Neuaufbau in sichereren Zonen
„Zyklon, 23.Oktober 1988“ steht auf manchen Hauswänden, die dem Sturm standgehalten haben. Ein Tag, von dem die Einwohner von El Rama noch ihren Enkeln und Urenkeln erzählen werden. Am Geruch erkennt man, daß die Stadt nicht mehr weit ist. Ein durchdringender Fäulnisgestank liegt über dem Ort: der von der Sonne erhitzte Morast, vermischt mit dem Moder der unter den Ruinen begrabenen Nahrungsmittel und verwesten Tierkadavern. Die Tanzbar „Genesis“ ist ein bunter Bretterhaufen. Von der Pension „Bella Vista“ ist außer dem hölzernen Namensschild nur mehr der schöne Blick auf den Fluß übrig. Rama war ein Ort an der Atlantikküste. Nach Hurrikan und nachfolgender Überschwemmung ist von dem 10.000 Einwohner-Städtchen kaum noch etwas übriggeblieben.
Eine Gruppe von Leuten durchwühlt mit Spaten und Spitzhacken den schlammigen Boden eines Hauses nach noch brauchbaren Gegenständen. „Der Sturm war schlimm“, erzählt Frau Transita Pineda, die sich der Aufräum-Brigade angeschlossen hat, „aber das anschließende Hochwasser war schlimmer.“ Ihr Haus im Primavera-Bezirk hatte dem Hurrikan standgehalten, der am Nachmittag des 23.Oktober über die Stadt gefegt war, „aber um 11 Uhr nachts ging uns das Hochwasser bereits bis zum Nabel“.
La Primavera und eine Reihe von anderen Stadtteilen in der Nähe der Flußufer werden während der Regenzeit regelmäßig überflutet. Doch normalerweise hebt sich der Wasserspiegel des Rama und des Siquia, die bei Rama in den Rio Escondido münden, nicht mehr als fünf Meter. 1986 schwollen die Flüsse um eine Rekordhöhe von acht Metern an und setzten den Hauptplatz knietief unter Wasser. Aber mit einer Flut, die 14 Meter über den Normalpegel reicht, hatte niemand gerechnet. Mitten in der Nacht mußten die Leute vom Roten Kreuz ganze Familien aus dem Wasser fischen, die bis zum letzten Moment nicht glauben wollten, daß ihre Häuser zur Gänze untertauchen würden. Fast unglaublich, daß in ganz Rama kein Todesopfer zu beklagen ist.
Aber der Sachschaden ist unermeßlich. Kleidung und Haushaltsgegenstände, die nicht durch die offenen Dächer herausgewirbelt und über die Gegend verstreut wurden, finden sich jetzt unter einer dicken Schlammschicht in den Ruinen. Vom Strom- und Telefonnetz sind nur ein paar schiefe Masten übriggeblieben. Im Rathaus sind die Angestellten damit beschäftigt, Schreibmaschinen und Büromöbel vom Schlamm zu befreien. Das Zivilregister und andere unersetzliche Dokomente werden aufgequollen aus den Archivkästen geborgen.
Neun Prozent der 1.200 Häuser von Rama haben die beiden aufeinanderfolgenden Katastrophen überstanden. Weitere 40 Prozent können instandgesetzt werden. Jede zweite Behausung aber ist entweder zusammengebrochen oder von den Fluten davongetragen worden. Drei Wände und der Boden eines hölzernen Fertigteilhauses von der Genossenschaft auf der anderen Flußseite fanden sich nach dem Unwetter plötzlich auf dem Hauptplatz vor der Kirche. Die Regierung hat eine Expertengruppe aus Vertretern der Regionalregierung, des geographischen Instituts, des staatlichen Planungsrates und des Bautenministeriums beauftragt, einen Vorschlag für den Neuaufbau von Rama vorzulegen.
„Die Option, Rama an einem anderen Ort völlig neu aufzubauen, wurde als wirtschaftlich unrealisierbar schnell verworfen“, berichtet Jose Carlos Valero, ein spanischer Architekt, der in der Gruppe mitarbeitet. Mindestens aber die tiefliegenden Bezirke, die sowieso weitgehend von der Erdoberfläche verschwunden sind, sollen in sicherere Zonen verlegt werden. „Nach unserem Plan werden 375 Familien neu angesiedelt.“ Sie werden Parzellen zu 15 mal 30 Meter zugeteilt bekommen und dort mit dem vorhandenen Material und neuem Bauholz ihre Hütte bauen. Wellblech, Nägel und Werkzeug will die Regierung durch weiche Kredite finanzieren.
Derzeit sind die Evakuierten auf eine Reihe von Lagern verteilt: von Las Presillas, etwa 20 Kilometer westlich, über die 150 Kilometer entfernte Regionshauptstadt Juigalpa bis zum fernen Managua. Am 14.November sollen die Aufräumungsarbeiten abgeschlossen sein. Dann dürfen alle zurück. Die Obdachlosen werden dann in einem 5.000 Personen fassenden Lager in der Nähe des Schlachthofes untergebracht. Dort können sie bleiben, bis sie ihr Zuhause wieder aufgestellt haben.
In El Rama ist nach 292 Kilometern die Straße von Managua zum Atlantik zu Ende. Von hier geht es nur noch auf einer etwa vierstündigen Bootsfahrt über den Rio Escondido nach Bluefields. Rundum ist der Laubwald völlig zerstört worden, die Stämme der Bäume liegen wie Mikado-Stäbchen übereinandergeschichtet. Selbst wenn ein aufwendiges Aufforstungsprogramm sofort in Angriff genommen wird, kann es viele Jahre dauern, bis die Erosion der umliegenden Hänge gebremst wird. Die Gefahr von Überflutungen wird damit von Jahr zu Jahr bedrohlicher. „Man müßte eine Uferbefestigung oder einen Damm bauen“, meint Jose Carlos Valero, „sonst gibt es in der nächsten Regenzeit wieder eine Katastrophe“.
Ralf Leonhard
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