: Alarmstimmung zwischen „Joan“ und George
■ Nach dem Hurrikan richten sich die Befürchtungen in Nicaragua auf die US-Präsidentschaftswahlen
In wenigen Tagen sollen die von der nicaraguanischen Atlantikküste vor dem anziehenden Hurrikan „Joan“ in Sicherheit gebrachten Menschen wieder in ihre Städte und Dörfer zurückkehren können. Dort stehen sie jedoch vor einem Trümmerhaufen. Die ersten Aufbauarbeiten sind zwar begonnen worden, doch es fehlt an allen Ecken und Enden. Dazu kommt eine erneute massive Bedrohung durch die Contra. In Erwartung des Wahlsieges von George Bush sollen 6.000 Contra entlang der honduranischen Grenze einsatzbereit auf das Signal aus Washington warten.
„Nur der da oben weiß, wann ich nach Hause zurückkehren kann.“ Der junge Mann mit den Afrolocken deutet mit dem Finger unbestimmt in den Himmel, grient mich an und ordnet seine laxen Glieder in die bequemste Richtung, die der Steinboden hergibt. Als einer von 300.000 im ganzen Land war er von sandinistischen Hilfsbrigaden evakuiert worden, bevor der Hurrikan „Joan“ am 22.Oktober seinen Heimatort Puerto Cabezas an der Costa Atlantica von Nicaragua niedermachte. Seit zwei Wochen schon lümmelt er auf den blanken Fliesen einer Schule in Managua herum, zusammen mit weiteren 880 Hurrikan-Flüchtlingen.
Wohin auch sollte er zurückkehren? Sein Haus wird ein Bretterhaufen sein, der die Scherben der ehemaligen Küche begraben hat; seine Hühner werden wohl den Bauch nach oben strecken, ersoffen in den Sintfluten treiben, die „Joan“ im Meer und im Himmel vor sich her geschoben hat. Alle hier haben sie alles verloren. Seine Nachbarn im nächsten Klassenzimmer, die aus Bluefields und dessen Hafenflecken El Bluff kommen, hält es allerdings nicht länger hier zwischen tagsüber feinsäuberlich aufgerollten Matratzen und letzten Resten persönlicher Habe aus. Seit dem 1.November werden diejenigen, die es so wollen, sukzessive in ihre Dörfer zurückgebracht. Einige Tage tobte die Diskussion, ob die Flüchtlinge statt dessen in einem neu aufzubauenden Viertel am Rande Managuas untergebracht werden sollten, aber die Mehrheit wollte zurück auf ihre Scholle.
„Huracan de amor“
Hier, wie in allen Flüchtlingslagern der Welt, wird ein verzweifelter Kampf gegen Bakterien, Viren und Epidemien geführt. Da, wo früher SchülerInnen über Examensarbeiten schwitzten, sind nun drei Gesundheitsposten untergebracht, einer für Erwachsene, einer für Kinder, einer für psychische Probleme. Dafür schwitzen nun die Lehrerinnen vor den vom sandinistischen Volksheer gestellten Feldküchen, in denen Suppe brodelt, oder in den Wäschekammern, wo die eingehenden Kleiderspenden verteilt werden. Denn kaum hatte sich der Hurrikan nach seinem vernichtenden Feldzug quer durch Nicaragua endlich über dem Pazifik totgewirbelt, erhob sich unter den BewohnerInnen des ganzen Landes ein „huracan de amor“, der Solidarität und der Spenden für die am härtesten Betroffenen.
Aus einem Land kommend, das an seinem Reichtum bald noch erstickt, war ich nicht die einzige Deutsche, die staunend sah, wie sich die Leute buchstäblich ihr letztes Hemd vom Leib rissen, um ihren „Brüdern an der Atlantikküste“ zu helfen. SchülerInnen strömten aus, um jeden auch noch so verschlafenen Haushalt wachzurütteln, Männer knallten Säcke mit Reis in die zu Sammelstellen umfunktionierten Schulen, Frauen brachten verschämt lächelnd Schuhe und Kleider, Arbeiter und Angestellte versprachen ein Prozent ihres Hungerlohns zu überbringen, Kinder zogen sich eine Armbinde des Roten Kreuzes über, spannten Schnüre über die Straßen und nötigten auf diese Weise jedem Autofahrer sein Scherflein ab. Die Jugend in den Städten konnte sich vor Solidaritäts-Festen, Solidaritäts-Spielen, Solidaritäts -Konzerten kaum mehr retten.
Es war, als wollte dieses vom Contra-Krieg und schwerer wirtschaftlicher Not zermürbte Land Nicaragua noch einmal für einige Tage mit dem Glanz dieser Solidarität der ganzen Welt zeigen, was das Geheimnis seiner Revolution ausmacht. Und wenn es nur ein gigantischer Verdrängungsprozeß gegen die Einsicht gewesen sein sollte, weder mit diesen hurrikanischen Zerstörungen noch ohne sie eine Chance zu haben.
Die größten Probleme
kommen noch
In der Tat wagt bisher kein Mensch, die Milliardenschäden überhaupt zu schätzen. Da „Joan“ gerade die Regionen am schlimmsten verwirbelt hat, in denen die meisten Grundnahrungsmittel angebaut werden, wird sich mit der absehbaren Lebensmittelverknappung und womöglich sogar Hungersnöten ihre wahre Dimension wahrscheinlich erst im nächsten Frühjahr herausstellen, dann, wenn die letzte Ernte aufgefuttert und der Hurrikan international längst vergessen ist.
Schon vorläufig gezählt sind nur die Bauten: 29.152 Häuser zerstört, 66 Brücken, fünf Landungspiers, 339 Schulen, 651,2 Kilometer Straßen, rund 2.000 Kilometer Stromtraßen. Zehntausende von Tieren kamen um, viele überlebenden streßgeschädigten Hühner wollen nun keine Eier mehr legen und die Kühe keine Milch mehr produzieren.
Das gesamte Regenwaldgebiet an der Costa Atlantica ist gefällt, rund eine Million Kubikmeter Holz liegt am Boden und wird dort wahrscheinlich verfaulend Myriaden von Bakterien nähren, die das empfindliche Ökosystem dieses Waldes vollends zum Zusammenbruch bringen, während andernorts mangels Bergungs- und Transportmöglichkeiten Brennholz und Bretter fehlen werden. Ökologen nehmen an, daß unter diesen Bedingungen viele in jenem Urwald heimischen Tier- und Pflanzenarten aussterben werden. Auch der Fisch und Krabbenreichtum der Costa Atlantica dürfte in den Turbulenzen und Überschwemmungs-Sedimenten des Wassers dahingerafft worden sein.
Die Sandinisten unterliegen in dieser neuerlichen Katastrophe einer besonderen Tragik. Unzählbar sind nämlich auch die Menschenleben, die die von den Comandantes Tage vorher losgeschickten Brigaden aus militärischen und zivilen Helfern gerettet haben. In den anderen von „Joan“ gestreiften Ländern, in denen das gemeine Volk sehr viel weniger zählt als hier, sucht diese giganteske Evakuierungsaktion ihresgleichen. Doch sie hat die sandinistische Regierung fast die letzten Devisenreserven für Transportleistungen und Lebensmittel gekostet. Und zudem läßt die geringe Zahl der Opfer - 116 Tote, 178 Verletzte, 110 Verschwundene - die Katastrophe in der Welt geringer erscheinen als sie ist. Die bisher geleistete internationale Hilfe reiche bei weitem nicht aus, klagen die Verantwortlichen. Mit den gelieferten Lebensmitteln könne man 15 Tage überleben, und auch nur dann, wenn die Luftbrücke zur Costa Atlantica bestehen bleibe. Fast überflüssig zu erwähnen, daß die US- amerikanische Regierung nicht ein Gramm und nicht einen Penny Katastrophenhilfe geleistet hat. Im Gegenteil sahen die ihr treuen Presseorgane, wozu nunmal auch 'La Prensa‘ in Managua zählt, in den Evakuierungen nur ein weiteres raffiniertes Manöver der Sandinisten zur Militarisierung des Landes und zur Gleichschaltung der Presse.
Während die Opposition noch kräftig trommelt, formiert sich im bedrohlichen Schatten, den der mutmaßliche nächste US -Präsident George Bush schon jetzt übers Land wirft, die Contra zu den nächsten massiven Attacken. Nachdem die sandinistische Regierung vor wenigen Tagen die Feuerpause in diesem aufgezwungenen Krieg um weitere 30 Tage einseitig verlängerte, mußte sie gleichzeitig vor einer bevorstehenden Großoffensive warnen - nach ihren Informationen stehen nämlich bis zu 6.000 Contras an der Grenze zu Honduras bei Fuß, um die Katastrophenstimmung zwischen Joan und George optimal auszunutzen. Der Hurrikan war noch nicht einmal abgezogen, da hatte die Contra schon eine französische Ambulanz angegriffen. Am vergangenen Samstag starb in Potosi ein Soldat und sechs Zivilisten wurden verletzt, als sie einer Hilfsbrigade zur Verteilung von Lebensmitteln auflauerte. Am gleichen Tag geriet ein Kleinlaster mit neun Zivilisten unweit des Grenzflusses Rio Coco in einen Contra -Hinterhalt, sechs Menschen wurden regelrecht abgeschlachtet, ein Kind, von Schrotkugeln durchsiebt, überlebte den Überfall nur knapp.
Angesichts all dieser Ereignisse ist es für unsereins ein wundersames Rätsel, aus welcher geheimen Quelle sich der optimistische Wiederaufbau-Wille der Nicas speist. Geradezu überschwenglich ließ sich kürzlich Comandante Omar Cabezas über das überparteiliche „Hilfskomitee für die Geschädigten“ aus: Eine Wohltat sei es, endlich mal jenseits aller politischen und ideologischen Querelen zusammenzuarbeiten und die Losung des Komitees umzusetzen: „Ein Dach der Liebe für die Costa Atlantica.“
Ute Scheub
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