: Nicht die weltweite Barbarei ausblenden
■ Götz Schwarzrock, Ausländerpolitiker in der Alternativen Liste, will „keine Kompromisse und keine Grenzen“ beim globalen Kampf für die Verwirklichung der Menschenrechte
Der sprunghafte Anstieg der Zahl der aus ost- und südosteuropäischen Ländern in die BRD kommenden Aussiedler hat in den letzten Wochen zu einer gespenstigen Debatte über die Rangfolge von erwünschten und unerwünschten Zuwanderern geführt.
Und als neueste Variante in dieser Debatte meldete sich in der letzten Woche ein AL-Politiker zu Wort, indem er über die „Belastbarkeit“ Berlins - mit Menschen und nicht mit Becquerel - nachdachte und einen Zielkonflikt zwischen grün -alternativen Vorstellungen zur Wohnungs- und Umweltpolitik auf der einen und der immigranten- und flüchtlingspolitischen Forderung nach „offenen Grenzen“ auf der anderen Seite konstatierte. Bevor sich diese Herangehensweise als möglicher grün-alternativer Beitrag in einer Diskussion über Einwanderungspolitik und Vorstellungen zur Verwirklichung einer multikulturellen, multinationalen Gesellschaft festsetzen kann, erscheint es dringend notwendig, die Forderung nach „Offenen Grenzen“ überhaupt erstmal grundsätzlich vorzustellen.
Im Sommer 1986 standen fast alle der in der Immigranten und Flüchtlingspolitik engagierten Gruppen trotz langjähriger Erfahrungen und vieler richtiger Einzelforderungen der rassistischen Hetzkampagne gegen Flüchtlinge ziemlich hilflos gegenüber. Es zeigte sich, daß die Beschränkung auf eine defensive Flüchtlingspolitik Verteidigung des Grundrechts auf Asyl, Verhinderung von Abschiebungen in Kriegs- und Krisengebiete u.ä. - nicht ausreichte, um gegen diese nationalistische und rassistische Ausgrenzungspolitik gegenüber Minderheiten Widerstand leisten zu können.
Die Erfahrung der Ohnmacht wurde zum Auslöser, um in einer breiten Diskussion über langfristige Perspektiven und grundsätzliche Alternativen zur gesamten in der BRD betriebenen Ausländer- und Asylpolitik nachzudenken. Herrschendes Prinzip dieser Politik ist, Einwanderer und Flüchtlinge nur unter den Aspekten der Bedürfnisse des nationalen Arbeitsmarktes und der Wahrung des deutschen „Volkstums“ wahrzunehmen. Eine alternative Einwanderungs und Flüchtlingspolitik muß mit diesem Prinzip brechen. Und das heißt vor allem:
-in der Frage der Menschenrechte nicht nach politischer, ökonomischer und nationaler Opportunität zu differenzieren, sondern beim Kampf für die Verwirklichung der Menschenrechte keine Kompromisse und keine Grenzen zu kennen;
-bei den politischen, ökonomischen und sozialen Rechten nicht nach nationaler Herkunft und Staatsbürgerschaft zu unterscheiden, sondern sich für die vollständige rechtliche, politische, soziale und ökonomische Gleichheit aller Menschen einzusetzen;
-statt an der Ausbeutung der Dritten Welt durch die Industriestaaten zu verdienen und gleichzeitig im eigenen Land Fremdenhaß, Rassismus und nationale Vorurteile zu schüren, sich zur globalen politisch-moralischen Verantwortung der Industriestaaten am Elend in der Dritten Welt zu bekennen und für deren „Folgekosten“ aufzukommen.
Alle drei Aspekte zusammen machen eine prinzipiell andere Orientierung zur herrschenden Ausländer- und Asylpolitik deutlich.
Daß diese Welt nur gerettet werden kann, wenn die globalen Zusammenhänge, die weltweiten Folgen und Risiken auch bei Einzelmaßnahmen berücksichtigt werden, ist in der Umwelt-, Energie- und Friedenspolitik heute eine Selbstverständlichkeit geworden. Selbst in der Wirtschaftspolitik beginnt sich diese Einsicht endlich auch
-die Anti-IWF-Kampagne hat dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet - langsam durchzusetzen. Alternative Politik in diesen Bereichen fordert deshalb entsprechende globale Lösungen - zum Beispiel den weltweiten Ausstieg aus der Atomwirtschaft, die allseitige und bedingungslose Abrüstung oder die Herstellung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung
-und gibt mit Forderungen wie „Sofortigem Ausstieg“, „Raus aus der Nato“ oder „Sofortige Schuldenstreichung“ auch für die Politik in der BRD Schritte an.
In der Frage des Menschenrechtes auf Leben - nichts anderes verbirgt sich hinter den überall auf der Welt vorhandenen Flüchtlings- und Wanderungsbewegungen - fehlte dagegen bisher ein alternatives Konzept, daß diesen globalen Zusammenhang herstellt und daraus Forderungen für eine Politik in diesem Land ableitete. Das Ziel der Verwirklichung einer offenen, multikulturellen und multinationalen Gesellschaft als konkrete Utopie und die Forderung nach „Offenen Grenzen“ versteht sich als ein solches politisches Konzept. Alle bisher in der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik entwickelten konkreten Forderungen - vom allgemeinen Wahlrecht über das Bleiberecht bis hin zur ersatzlosen Streichung des Ausländergesetzes lassen sich in dieses Konzept einordnen und bekommen dadurch erst ihren richtigen Stellenwert. Und auf der anderen Seite stehen die „Offenen Grenzen“ nicht isoliert von anderen langfristigen Zielvorstellungen der Alternativen, sondern bilden mit ihnen eine Einheit: sowohl mit der Forderung nach Abschaffung der Ausbeutung der Dritten Welt als auch grundsätzlichen Umorientierung in der Arbeitsmarktpolitik.
Einwände und Kritik an der Forderung nach „Offenen Grenzen“ lassen sich im Grunde auf zwei Schlagworte reduzieren: die „Belastbarkeitsgrenze“ und die „Zumutbarkeitsgrenze“. „Belastbarkeitsgrenze“ meint sowohl, daß die ökonomischen Ressourcen der BRD nicht ausreichen, um alle aufzunehmen, die in die BRD kommen wollen, als auch, daß die ökologischen und sozialen Bedingungen dies nicht zulassen; „Zumutbarkeitsgrenze“ hat mehr die ideologischen Konsequenzen vor Augen und sieht die Gefahr, daß nationale Vorurteile, latenter Rassismus und nationalstaatlicher Egoismus durch eine Politik der „Offenen Grenzen“ nicht abgebaut, sondern eher noch verstärkt werden. Die Konsequenzen aus beiden Einwänden wäre, daß auch alternative Immigranten- und Flüchtlingspolitik die Zuwanderung begrenzen müßte, daß sie dabei allerdings weiter gefaßte und menschlichere Kriterien als herrschende Ausländer- und Asylpolitik anlegen muß. Spätestens für Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen in die BRD kommen wollen, schließen aber auch einige AlternativpolitikerInnen die Grenzen.
Beide Einwände gehen zuerst einmal von einer Voraussetzung aus: Es wird unterstellt, daß im Prinzip alle Menschen auf dieser Welt, die heute schlechter leben als wir in der BRD, den Wunsch haben, hier leben und arbeiten zu wollen. Spätestens seit der Aufnahme von Griechenland, Spanien und Portugal in die EG ist diese Voraussetzung rein empirisch widerlegt. Auch die Öffnung der Grenzen für Menschen aus der Dritten Welt wird nicht zu der Horrorvision einer „Überflutung“ durch Arbeitssuchende führen, die als Schreckgespenst an die Wand gemalt wird. Es werden sicherlich mehr Menschen auf der Flucht vor Kriegen und staatlicher Repression, aus Hunger und mit der Hoffnung für ein besseres Überleben zuwandern. Aber gemessen an dem, was die Industriestaaten an der Ausbeutung der Dritten Welt verdienen und durch neokoloniale Politik und Unterdrückung in den Ländern der Dritten Welt anrichten, klagen diese Zuwanderer nur einen Bruchteil davon wieder ein.
Gerade weil die Politik der Industriestaaten darin besteht, die von ihr verursachten Folgen der Weltwirtschaftsordnung zu leugnen, und auf die steigenden Fluchtbewegungen mit nationalstaatlichen Maßnahmen in Form von Schließung der Grenzen antwortet, muß eine alternative Politik diesen Versuch der Abkoppelung und Entsolidarisierung mit einer konkreten Forderung entgegentreten. Der Hinweis auf „Entwicklungshilfe“ ist in diesem Zusammenhang eher zynisch als hilfreich. Offene Grenzen werden sicherlich zu mehr Problemen bei uns und vielleicht auch zur Nichtdurchsetzbarkeit mancher liebgewordenen Vorstellung in anderen Bereichen führen. Die Forderung aber zugunsten dieser Vorstellungen aufzugeben, hieße, die politisch -moralische Mitverantwortung für die weltweite Barbarei aus unserem Bewußtsein zugunsten einer lokalen, regionalen oder nationalen „Idylle“ auszublenden.
Götz Schwarzrock
Flüchtlingspolitik und „Offene Grenzen“ sind ein Thema bei der „Internationalen Konferenz gegen Faschismus, Rassismus und Sexismus“, der noch bis zum 10.November in der Fabrik in der Osloer Straße 12 stattfindet. In der Vorbereitung des europäischen Marktes „harmonisieren“ die EG-Länder ihr Asylrecht mit dem Ziel, die Grenzen für Flüchtlinge möglichst dichtzumachen. Daß in der AL über das Thema „Offene Grenzen“ erbittert gestritten wird, ist in den taz -Ausgaben der vergangenen Tage nachzulesen. Auf dieser Seite erläutert Götz Schwarzrock vom Ausländerbereich die Forderung nach „Offenen Grenzen“. Den Beitrag von Udo Knapp können die TagungsteilnehmerInnen nur der taz entnehmen: Knapp, der zu der Tagung eingeladen worden war, wurde kurz vor Beginn wieder ausgeladen.
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