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Schmuddelkinder trotzen Bonzen

St. Pauli beim 0:0 besser als Bayern / Piratenflaggen fordern: „St. Pauli gegen Rechts“ / Heynckes jammert  ■  Aus Hamburg Florian Marten

In Hamburg ist derzeit vieles in völlige Unordnung geraten: Da purzeln plötzlich die Arbeitslosenzahlen, und niemand weiß warum und warum gerade hier. Da bleibt ein großes Weltmeisterschaftsstadion (BRD-DDR 0:1!) trotz wunderschöner Autobahnlage und eines Erstligaspitzenteams meist gähnend leer. Da ist ein grüner Acker, umgeben von 50er-Jahre -Fußballflair, bespielt von Kickern, die ihre Aufwärmgymnastik bis vor kurzem fast ausschließlich in der vierten, dritten oder zweiten Liga hinter sich brachten, plötzlich in Serie ausverkauft. Und am Samstag mußte der Stadionsprecher 44.000 Ohren gar die Empfehlung mitgeben, sich schleunigst für das Spiel gegen Mannheim Karten zu besorgen, weil da vor Beginn des Vorverkaufs schon 10.000 Bestellungen vorliegen.

Und wer tatsächlich einmal eines der legendären Heimspiele des FC St. Pauli im schmuddeligen, anheimelnden Wilhelm-Koch -Stadion mitten im krisengeschüttelten Hafenviertel besucht, der sieht gnadenlos alle Vorstellungen vom deutschen Fußballfan auf den Kopf gestellt. Statt Hakenkreuzfahnen wehen Piratenflaggen, gegen die Bayern soviele wie nie zuvor: Weißer Totenschädel und gekreuzte Knochen auf schwarzem Grund, die Hausfahne der berühmten Hafenstraßen -Häuser. Und die Fans des St. Pauli-Torwarts Volker Ippig tragen neuerdings ein T-Shirt mit dem beziehungsreichen Slogan „Volker, hör‘ die Signale“, die Transparente fordern „St. Pauli gegen Rechts!“ (gegen die Bayern), oder „Vorwärts im Kampf gegen den Abstieg“ (beim Auswärtsspiel in Hannover).

Und was noch erstaunlicher ist, die Jungs vom Kietz kicken auch noch ansehnlich. Dabei dachten wir doch, im Fußball zähle nur Geld und keine Leistung (also ganz wia im richtign Lebn), und eine Mannschaft wie der FC Bayern München, die seit Jahren die Sahne der Kickerschaft einkauft (und sei's nur, um die Konkurrenz zu schwächen), die könne sich Erfolg und schönes Spiel einfach kaufen. Pustekuchen.

Und deshalb macht Fußball auf St. Pauli auch so viel Spaß. Nach dem Motto „Nie im Fernsehen - nur bei uns“ (so wirbt das letzte authentische Hamburger Variete) wird hier ein nostalgischer Fußballtraum Wirklichkeit: Da werden berühmte Fernsehabziehbilder plötzlich mit Schweiß und Dreck und guter Laune konfrontiert - und gehen baden.

Diesen Spaß verschafft einem auch das 0:0 vom Samstag, selbst Millionen-Trainer Heynckes mit glühender Birne und finsterer Mine bemerkte: „Ich haben heute kein Fußballspiel gesehen, sondern nur ein Kampfspiel.“ Und dann jammert er: Der Rasen sei schlecht, die Zustände chaotisch, das Publikum unmöglich. Aber, aber, Herr Heynckes, wo doch selbst Arie Haan (immerhin punktlos in Hamburg) die Fans hier als Jungbrunnen des deutschen Fußballs würdigte.

Doch ehrlich sauer war Heynckes schon: Da kommen sie in dem Glauben, beide Punkte stünden ihnen von Standes wegen zu, und treffen da eine Mannschaft, die sie gleich gar nicht ins Spiel kommen läßt. Und darin bestand der Kern des Fußballereignisses am Samstag im restlos überfüllten Stadion (Schwarzmarktpreise 200 Mark für die Tribüne): Mit begeisterndem Forechecking und simplem, aber effizientem Spielwitz brachten die Ippig, Trulsen, Golke, Ottens, Duve und Co. die Meisterkicker zum Schwitzen und Stottern. Filmrisse beim sonst so gefährlich einschläfernden Abwehr -Breitwand-Panorama-Gespiele der Südlichter, trockenes Hüsteln der gefürchteten Kombinationsmaschinerie. Eine einzige Torchance erspielten die Münchner trotz massiver Hilfe des Schiedsrichters, doch Ippig parierte der plazierten Flattermann von Thon.

St. Pauli dagegen spielte gut wie selten in dieser Saison, war die insgesamt dominierende Mannschaft mit vielen Chancen, drei hundertprozentigen, die einmal Golke vergab und zweimal Aumann mit Glück vereitelte. Klar, St. Pauli hatte „heute einen Punkt verloren“ (Trainer Schulte). Doch die Fans feierten den einen Punkt so, als wäre es um nicht weniger als Alles gegangen. So ist er, der Fußballalltag 1988 in St. Pauli.

ST. PAULI: Ippig - Kocian - Trulsen, Duve - Olck, Gronau, Golke, Bargfrede, Zander - Steubing, Ottens (73. Bistram)

MÜNCHEN: Aumann - Augenthaler - Nachtweih, Grahammer Reuter, Dorfner, Flick, Thon, Pflügler - Wohlfarth (67. Wegmann), Kögl

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