: Herbstoffensive in Belfasts Einkaufszentrum
Drei Jahre nach Unterzeichnung des anglo-irischen Abkommens ist man in Nordirland keinen Schritt weiter: Die IRA hat eine neue Offensive gestartet, und Maggie Thatcher setzt auf eine militärische Lösung des Konflikts / Nächstes Jahr jährt sich zum zwanzigsten Mal die Intervention britischer Truppen in Nordirland ■ Aus Belfast Ralf Sotscheck
Die Falls Road führt vom Zentrum der nordirischen Hauptstadt Belfast nach Westen. Je weiter wir die Falls Road hinauffahren, desto deutlicher werden die Spuren der „Troubles“. Öffentliche Gebäude und Kneipen sind durch Gitterkäfige vor den Eingängen gesichert, Polizeireviere und Armeekasernen zu Festungen ausgebaut. Die Giebelwände der Eckhäuser zieren kunstvolle Wandmalereien, die keinen Zweifel an den Sympathien der meisten Bewohner lassen: „Up the IRA“.
West-Belfast ist die Hochburg der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) und ihres politischen Flügels, Sinn Fein (Wir selbst). Hier gewinnt Sinn-Fein-Präsident Gerry Adams regelmäßig die Wahlen mit großem Vorsprung vor seinem sozialdemokratischen Konkurrenten. Im Zuge der „Normalisierungs-Politik“ ist das untere Ende der Falls Road saniert worden. Die zerfallenen, aus Angst vor Heckenschützen zugemauerten Einfamilienhäuser wurden durch Reihen roter Backsteinbauten ersetzt. Diese Häuser mit ihren kleinen Vorgärten sind einkommensschwachen Familien vorbehalten. Wer ist das nicht in den katholischen Ghettos Nordirlands, wo die Arbeitslosigkeit bis zu 80 Prozent beträgt? Die Häuser reichen fast bis an die „Friedenslinie“ heran - einen Wellblechzaun, hinter dem protestantisches Gebiet liegt. Mitten in dieser Neubauidylle erinnern die Überreste der Divis Flats - einer Hochhaussiedlung aus den sechziger Jahren - daran, daß der Schein der Normalität trügt. Divis Flats, früher als „Tummelplatz für Terroristen“ bezeichnet, soll jetzt wieder abgerissen werden. Der „Tower“, der höchste Wohnkomplex, wird jedoch stehenbleiben. Auf seinem Dach hat die britische Armee einen Stützpunkt mit Überblick über das „Feindesland“ West-Belfast errichtet. Direkt daneben verläuft der „Westlink“, eine tiefliegende Schnellstraße, die wie ein Burggraben wirkt. Er erleichtert den „Sicherheitskräften“ die Kontrolle der Zufahrtsstraßen nach West-Belfast - Stadtplanung als Mittel der Aufstandsbekämpfung.
Doch die britische Premierministerin Margaret Thatcher setzt nicht auf eine stadtplanerische, sondern zunehmend auf eine militärische Lösung des Nordirland-Konflikts - gegen den Rat des ehemaligen Kommandeurs der britischen Streitkräfte in Nordirland, Sir James Glover. Seine Meinung: Die IRA sei militärisch nicht zu besiegen. Doch spätestens seit dem IRA-Attentat in Ballygawley, dem im August acht britische Soldaten zum Opfer fielen, will Thatcher „die IRA vom Gesicht der zivilisierten Erde wegwischen“. Nur wenige Tage nach dem Anschlag legte die britische Sondereinsatztruppe SAS einen Hinterhalt, dem drei IRA -Männer zum Opfer fielen. Zwar kommt die „shoot to kill„ -Politik (schießen, um zu töten) dem „Rambo-Instinkt“ von Teilen der britischen Bevölkerung und der Medien entgegen, doch selbst die SAS-Kommandos werden die IRA nicht auslöschen können. Darüberhinaus stößt die Thatchersche Todesschuß-Politik bei ihren Kollegen in der EG auf Mißfallen, weil damit nicht einmal der Schein eines rechtsstaatlichen Vorgehens gewahrt wird.
„Ich lief gerade an der Rock Bar vorbei, als mich Jugendliche darauf aufmerksam machten, daß ich verfolgt werde. Der Typ, der mir nachlief, war ziemlich jung, sportlich und hatte Jeans an. Als ich ihn zur Rede stellte, zog er eine Waffe und rannte auf die Falls Road. Innerhalb von Sekunden hielt ein Auto an. Der Typ stieg ein und der Wagen raste davon“, erzählt Dermot, einer der führenden Republikaner des Viertels. Wir sitzen in einer der tristen Säuferzellen der Rock Bar am oberen Ende der Falls Road. Die Jugendlichen hatten jedoch beobachtet, wo der Verfolger Dermots sein Auto abgestellt hatte, mit dem er schon seit Tagen scheinbar ziellos durch West-Belfast gefahren war. Sie knackten das Auto und fanden auf dem Beifahrersitz unter einer Zeitung eine schußbereite Heckler & Koch -Maschinenpistole, Strumpfmasken, ein Sprechfunkgerät und mehrere Stadtpläne, auf denen Dermots Haus markiert war. „Ich bin davon überzeugt, daß hier ein neuer Einsatz des SAS vorbereitet werden sollte“, sagt Dermot. Die Fundstücke wurden „sichergestellt“. Über Nacht sprühten Unbekannte in riesigen Lettern an die Wände: „Thanks for the Heckler!“ Die neue IRA-Offensive in diesem Jahr zwingt die britische Regierung zum Handeln. In diesem Jahr sind bereits 84 Menschen getötet worden, davon 52 von der IRA. Der hohe Anteil britischer Soldaten unter den Opfern beunruhigt die Londoner Regierung besonders. Seit März starben 27 Soldaten. Der Propagandaerfolg für die IRA ist vor allem in Großbritannien ungleich größer als bei ähnlichen Aktionen gegen die nordirischen „Sicherheitskräfte“.
Die Möglichkeiten der britischen Regierung sind begrenzt, solange die politischen und sozialen Bedingungen in Nordirland weiterbestehen, denen die IRA ihre Existenz und Unterstützung verdankt. Für Thatcher reduziert sich der Konflikt auf ein Sicherheitsproblem. Unter diesem Gesichtspunkt steht auch das anglo-irische Abkommen vom November 1985, über das jetzt nach dreijähriger Laufzeit Bilanz gezogen wird. Das Abkommen sollte inoffiziell die Dubliner Regierung stärker in die „Terrorismus-Bekämpfung“ einbinden. Das ist zum Teil auch gelungen, wie die Auslieferung von IRA-Gefangenen und die Aushebung von IRA Waffenverstecken in der Republik Irland beweisen. Doch eine Annäherung der beiden Bevölkerungsteile in Nordirland - wie das offizielle Ziel lautete - hat das Abkommen nicht bewirkt. Die Protestanten verharren weiter in ihrer „Megaphon-Diplomatie“, die sich darauf beschränkt, die Rücknahme des Abkommens als Voraussetzung für Verhandlungen zu fordern. Darüberhinaus haben die wahllosen Morde protestantischer Paramilitärs an Katholiken in diesem Jahr stark zugenommen. Und die versprochenen Justiz- und Polizei -Reformen, die das Vertrauen der nordirischen Katholiken in „ihren Staat“ wiederherstellen sollten, haben bis heute nicht stattgefunden. Deshalb sind IRA und Sinn Fein keineswegs isoliert, wie London und Dublin es erhofft hatten. Jetzt versucht die britische Regierung, die beiden Organisationen mundtot zu machen, wobei einige demokratische Grundrechte auf der Strecke bleiben. Vor drei Wochen verkündete der britische Innenminister Hurd ein Verbot von Interviews mit Sympathisanten und Mitgliedern der Untergrundorganisationen. Von dem Verbot ist auch die legale Sinn Fein betroffen. Die nordirischen Sozialdemokraten bemerkten dazu sarkastisch: „Es bleibt abzuwarten, wieviele IRA-Aktivisten in West-Belfast ihre Waffen niederlegen werden, weil sie Gerry Adams nicht mehr im Fernsehen bewundern können.“ Weitere Gesetze liegen in der Schublade. Im November soll das Recht auf Aussageverweigerung vor Gericht gestrichen werden. Aussageverweigerung zu einem Tatbestand wird dann gegen die Angeklagten ausgelegt. Außerdem gibt es bereits eine Gesetzesvorlage, wonach die Regierung berechtigt werden soll, Besitz und Bankkonten zu beschlagnahmen, falls der Verdacht besteht, daß sie „für terroristische Zwecke verwendet“ werden könnten. Es liegt dann an den Betroffenen, das Gegenteil zu beweisen. Die britischen Befürchtungen, daß die IRA ihre Kampagne weiter intensivieren wird, sind berechtigt. 1989 jährt sich zum zwanzigsten Mal die Intervention britischer Truppen in Nordirland. Die IRA wird verstärkt auf den „vergessenen Krieg“ in Nordirland aufmerksam machen.
Die Offensive hat bereits begonnen - auch in der Belfaster Innenstadt, in der zehn Jahre lang Burgfriede herrschte. In der ehemaligen Geisterstadt entstand ein Einkaufszentrum wie in jeder anderen Großstadt. Seit August ist es mit dem Burgfrieden vorbei. Die IRA hat auch hier ihre Bomben -Kampagne wiederaufgenommen und bereits Schäden in Millionenhöhe verursacht. Sie kündigte an, daß die Anschläge auf die Belfaster Innenstadt - bisher unangetastetes Symbol „erfolgreicher Normalisierungspolitik“ - zwar sporadisch bleiben, aber maximalen Schaden anrichten sollen.
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