: Eine aus guten Gründen delirierende Sprache
■ In Wien hatte Thomas Bernhards „Heldenplatz“ Premiere. Eine Kritik und eine Chronik der Ereignisse
Im März 38 feierten die Wiener auf dem Heldenplatz den Anschluß an das Reich. Familie Schuster, jüdische Intellektuelle, mußte emigrieren. Nachdem Krieg kehrten sie zurück. Angesichts des im Laufe der Waldheim Affäre wieder hochgespülten Antisemitismus stürzt sich Joseph Schuster aus dem Fenster. Das Stück? Das sind die Reden der Hinterbliebenen: Haushälterin, Töchter, Bruder und Ehefrau. In dieser Reihenfolge.
Kein Wort über Bernhards Stück. Ich glaube nicht, daß ich es gesehen habe. Das liegt nicht an den aufgeregten Zwischenrufen pro und contra. Nein, es liegt an der Inszenierung. Sollten die zahllosen Wiederholungen - keiner der Hauptredner, der nicht mindestens zweimal denselben Satz sagt, kein Kernsatz, der nicht von verschiedenen Figuren im Laufe des dreieinhalbstündigen Abends ausgesprochen wurde wirklich nur Langeweile erzeugen? Schaffen sie wirklich keine Struktur, keinen Rhythmus? Mein Verdacht: Peymann hat alles, was an Sprechtheater, an „Publikumsbeschimpfung“ erinnern könnte, herausorperiert, niederinszeniert.
Die drei großen Monologe, aus denen Bernhards Heldenplatz im wesentlichen besteht, sind Paraderollen, Glanzstücke, an denen sich noch viele Schauspieler versuchen werden.
Hier im Burgtheater scheint das nur Wolfgang Gasser begriffen zu haben. Er, nur er, hat die Inszenierung daran gehindert, das Stück in Langeweile zu ersticken. Er spielt den Bruder des toten Professor Schuster - auch ein Professor, und Robert heißt er im Gegensatz zum toten Joseph - so brillant wie der Text es nahelegt, aber auch verlangt. Die zum virtuosen Spiel einladende Devise seiner Figur lautet: „In jedem Österreicher steckt ein Massenmörder, aber soll ich mir darum die gute Laune verderben lassen?“
Robert Schuster hat sich fest vorgenommen, nach dieser Devise zu leben. Natürlich geht das nicht. Schon gar nicht auf dem Theater. Heldenplatz ist der Abend, an dem er ausflippt, herausplatzt aus seiner guten Laune und herausläßt, was er denkt und hält von der Welt: Für die Stellen ganz oben kann man gar nicht stupide genug sein, der Bundeskanzler erbricht, wenn er den Mund aufmacht, um zu reden, nur Scheiße, der Bundespräsident ist ein Nazi, die österreichischen Sozialisten sind National-Sozialisten.
Überall Stumpfsinn, Korruption, verbrecherische Ignoranz, Gemeinheit und natürlich: Antisemitismus. Man redet mit jemandem. Ahnungslos. Ein Idiot, stellt man fest nach ein paar Sätzen. Kurz drauf merkt man: ein Nazi, ein antisemitischer, aggressiver Nazi, eine Dogge, die darauf wartet, wieder von der Leine gelassen zu werden. Robert Schusters Sicht - Einsicht?: Das wird sich nie ändern, besser gar nicht ignorieren.
Wolfgang Gasser spielt Eruptionen und hilflose Widerrufe voller Lust am Auf und Ab, am Spiel von laut und leise, von heiserer Erregung und kalter Verachtung. Großartig die Rückfälle in die selbstauferlegte Bonhomie seiner Figur, die Loblieder auf die Konzerte des Musikvereins, die des alten Mannes einzige Beziehung zur Außenwelt zu sein scheinen. Sie sind kurz, werden schrill unterbrochen von der Einsicht, daß die da neben ihm sitzen, die sind, die im März 1938 auf dem Wiener Heldenplatz dem Führer zujubelten. Beethoven läßt sich nicht mehr hören, ohne an die Übertragungen vom Reichsparteitag zu denken. Die Nazis haben verloren, aber jetzt setzen die Nach-Nazis, die eben doch auch Nazis sind oder jede Minute wieder sein könnten, ihr Werk fort. Alles, was die Nazis nicht zerstört haben, haben die Nachnazis zerstört. Die Städte, die Natur, die Kultur. Zerschlagen. Kaputt.
Wolfgang Gasser macht die Wut, die aufgestaute, sich jetzt eine Stunde lang entladende Wut des aus dem Exil nach Wien heimgekehrten jüdischen Emigranten plausibel, zeigt ihre tückische, auch selbstzerstörerische Kraft. Großes Theater.
Aber das Stück dauert dreieinhalb Stunden. Im Burgtheater, in dieser Inszenierung, ganz sicher zweieinhalb Stunden zu lang. Anneliese Römer z.B. - sie spielt Joseph Schusters Haushälterin „Zittel“ - sagt den ganzen ersten Akt lang, ganz und gar hilflos, brav ihren Monolog auf. Ebenso hilflos die Regie, die sie tun läßt, wovon sie im Text gerade spricht: Schränke öffnen, Wäsche sortieren, Hemden zusammenlegen, bügeln. Dieser Realismus zerstört das Stück. Sie kann ihre Arie nicht singen, die Kadenzen ihrer Verehrung folgen dem sinnlosen Rhythmus ihrer Gänge statt denen des Textes. Wolfgang Gassers Monolog dagegen fand statt auf einer Bank auf dem Friedhof. Niemand rührte sich. Er saß da mit den beiden Nichten und beschimpfte das Sechstagewerk. Keine blöden Herumhampeleien. Nur das Auf und Ab rhetorischen Fiebers, die Hitzewellen einer aus guten Gründen delirierenden Sprache.
Arno Widmann
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