Schulpflicht auf Kosten der Psyche des Kindes

Am unbarmherzigen Schulsystem drohte der neunjährige Daniel zu zerbrechen / Eltern ringen seit zwei Jahren mit den Schulbehörden / Sie zogen die „Notbremse“ / Appell an den Kultusminister: „Laßt uns ein Jahr in Ruhe“  ■  Aus Paderborn Walter Jakobs

Im Sommer 1986, der Urlaub auf einer Nordseeinsel neigt sich dem Ende zu, fällt die Entscheidung. Hans und Ursula Treu sind verzweifelt. Immer dann, wenn die Rückreise zur Sprache kommt, erzittert ihr jüngster Sohn. Weinkrämpfe schütteln den neunjährigen, er will nicht mehr in das kleine Dorf Husen zurück - aus Angst vor der Schule. In diesem Moment wissen die Eltern, es geht nicht mehr. Daniel muß da raus, und so kommt es. Seit diesem Sommer geht Daniel nicht mehr zur Schule. Gisela Treu, Sozialpädagogin von Beruf, und Hans Treu, Privatdozent an den Hochschulen in Paderborn und Bielefeld, nehmen die Unterrichtung von Daniel selbst in die Hand. „Wäre Daniel noch einige Wochen zur Schule gegangen, wäre er ein Fall für die Kinderpsychiatrie geworden“, sagt der Vater. Bei der Einschulung sei Daniel ein „quicklebendiger“ kleiner Junge gewesen, allenfalls ein wenig „introvertiert“. Doch schon nach ein paar Wochen Schule sei ihr Sohn „völlig blockiert“ mittags nach Hause gekommen. Selbst längst geläufige Buchstabenübungen seien ihm in der Schule plötzlich unglaublich schwer gefallen. Je mehr Schule, um so größer der Buchstabensalat. Und schnell galt Daniel in der Klasse und bei der Lehrerin als jemand, der „das sowieso nicht kann“. Nur vorübergehend, als die Lehrerin der Parallelklasse in Daniels Klasse eine sechswöchige Vertretung absolvierte, blühte der Junge auf. Der Versuch der Eltern, Daniel in diese Klasse versetzen zu lassen, scheiterte am Schulleiter. In der Grundschule Altenautal in Lichtenau-Husen, etwa 20 Kilometer von Paderborn entfernt gelegen, gelten die Interessen der Kinder offenbar wenig. „Häufig“, so erzählt Hans Treu, seien Kinder dieser Schule von Lehrerinnen und dem Schulleiter geschlagen worden. Daniel selbst blieb von diesen Schlägen verschont, wurde aber offenbar mehrmals Zeuge der Übergriffe. „Auf meine Frage, wie die Kinder die Schläge bekämen, machte er Patsch, er hatte mir eine geklebt, und ich wußte Bescheid“, berichtet Daniels Mutter. Im Paderborner Land gibt es immer noch viele Eltern, die diese Art von „Erziehungshilfen“ für das Natürlichste der Welt halten. Eine Umgebung, ein Klima, in dem der sensible, wenig robuste Daniel unterging. Nach einem Jahr Schule begann er zu stammeln, zu stottern, reagierte mit Appetitlosigkeit und Schweigen. Im Sommer 1986 zogen die Eltern die „Notbremse“, der Schulterror wurde gestoppt. Der nun schon zwei Jahre währende Kampf mit der Schulbürokratie führte die Eltern am Montag dieser Woche erneut in den Paderborner Gerichtssaal. Es ging um den Einspruch der Eheleute Treu gegen den nun schon dritten Bußgeldbescheid des Paderborner Schulamtes.

Wegen dauerhaften Verstoßes gegen §6, Abs. 4, des Schulpflichtgesetzes hatte die Behörde die Eltern erneut mit je 1.000 DM Bußgeld belegt. Amtsrichter Franz Kaps, der auf der Empore - wir befinden uns in der Bischofsstadt Paderborn - im Schatten eines Kruzifixes agiert, hat schon einmal in dieser Sache die Eltern zu 250 Mark Buße verurteilt. Richter Kaps, in Paderborn zu den liberalsten seiner Zunft gehörend, „versteht zwar die Sorgen der Eltern“, ist aber enttäuscht, daß nach dem ersten Urteil „kein Versuch unternommen wurde, eine andere Schule zu finden“. „Es gibt hier keine“, sagen die Eltern, die von einer freien Schule wie in Bochum für ihren Daniel träumen. Daß Hans Treu standhaft bleibt und ankündigt, „solange der Daniel sich weigert, auf eine öffentliche Schule zu gehen, werde ich ihn nicht hinschicken“, paßt Richter Kaps gar nicht. Schon die Diktion des schriftlichen Widerspruchs der Eheleute Treu muß den Richter irritiert haben. In diesem Schreiben war von „Kinderfeindlichkeit“ die Rede, von einer Schulbehörde, „die keine Rechte für Kinder kennt, sondern Kinder zu bloßen Objekten staatlichen Handelns entwürdigt“. Das Schulsystem, so das Schreiben weiter, reagiere auf Kinder, die nicht im üblichen Sinne funktionierten, mit „einer gnadenlosen Unterdrückung und anschließender Aussonderung“. Mit sorgenvoller Miene mahnte Richter Kaps die Eheleute Treu, nur ja nicht den Fehler zu machen, auf „der Schiene zu fahren, gewinne ich oder die Behörde“. Der „Machtkampf mit der Behörde dürfe nicht Vorrang vor den Interessen des Jungen bekommen“. Daniel nicht als Opfer des unflexiblen Schulsystems, sondern als einen Problemfall rechthaberischer Eltern zu sehen, diese Wertung, die bei Richter Kaps lediglich in Zwischentönen anklang, geriet beim Staatsanwalt am Montag schon wesentlich deutlicher. Von „Starrsinn“ sprach der Anklagevertreter, der im übrigen „nicht nachvollziehen“ kann, daß „das System schwere Schäden bei Kindern nach sich ziehen könnte“. Zu jeweils 500 Mark verurteilte Richter Kaps die Eheleute Treu.

Auch mit diesem Bußgeld wird die Schulbehörde, die in den letzten zwei Jahren auf Antrag des Regierungspräsidenten gegen Daniel ein Sonderschulaufnahmeverfahren für Körperbehinderte einleitete und die zwangsweise Zuführung zur Grundschule vergeblich versuchte, die Eltern nicht brechen können. Angst haben sie nur vor einem Verfahren zum Entzug des Sorgerechtes. „Dann“, so die Eltern, deren ältester Sohn in Paderborn studiert, während ein weiterer Bruder von Daniel noch die Sekundarstufe zwei besucht, „würden wir sofort die Sachen packen und emigrieren“. Sie wären nicht die ersten, die vor der geradezu mit manischem Eifer in der BRD umgesetzten Schulpflicht flöhen. Hätten die Eheleute einen Wunsch an Kultusminister Schwier (SPD) frei, so lautete ihre schlichte Bitte: „Laßt uns ein Jahr in Ruhe mit Daniel arbeiten, dann sind wir wahrscheinlich auch wieder soweit, den Jungen in Richtung Schule zu öffnen.“