: Die Neue Welt setzt auf das Alte
■ Die Wahl von George Bush ist ein letzter Erfolg der Politik Reagans / Von Stefan Schaaf
Erstmals seit 150 Jahren hat es ein Vizepräsident geschafft, selbst zum Präsidenten gewählt zu werden. Dabei scheint Bush geholfen zu haben, was allen vorherigen Vizepräsidenten strukturell zum Nachteil gereichte. Im Schatten ihrer Präsidenten hatten sie keine Chance, sich selbst zu profilieren. Zum Glück für Bush: die Popularität des amtierenden Präsidenten geht soweit, daß die Mehrzahl der Wähler lieber seine schwache Kopie in Kauf nahmen, als einen Wechsel herbeizuführen.
Es war kurz vor neun am Dienstagabend, als die dicke Lady zu singen begann. George Bush gefiel, was er da hörte. Er hatte gerade New Jersey und Ohio gewonnen, offenbar sogar die demokratische Hochburg Maryland. Damit war klar, daß die Meinungsforscher recht behalten würden. Ein spektakulärer Dukakis-Sieg in letzter Sekunde findet nicht statt. Wahlnacht in den USA: Alle vier Jahre, am „ersten Dienstag nach dem ersten Montag im November“, so haben es die Gründerväter der Vereinigten Staaten festgelegt, wird ein neuer US-Präsident gewählt. Was sie nicht geplant und wohl auch kaum gewollt haben, ist die Pervertierung dieser Wahl zu einem sich über fast zwei Jahre hinziehenden Politspektakel, welches eine weitgehend angewiderte amerikanische Bevölkerung wie eine mediale Dampfwalze überrollt hat.
Wahlnacht in den USA: Das ist die Stunde der Kartographen und Grafiker in den amerikanischen Fernsehgesellschaften, die sich gegenseitig mit wirbelnden Logos und blau-weiß -roten Symbolen, blinkenden Ziffern und dreidimensionalen Trugbildern auszustechen versuchen. Wahlnacht in den USA, das ist für die elektronischen Medien nur eine politische Abart der olympischen Spiele, hier gibt es nur Gewinner oder Verlierer. Politik sei für Texaner wie ihn „ein Sport mit Körperkontakt“, bestätigt der Dukakis-Vize Lloyd Bentsen. Bentsen und Mike Dukakis waren diesmal die Verlierer, heisere und erschöpfte Verlierer, die am Schluß nicht mehr wie Präsidentschaftskandidaten wirkten, sondern wie die kaputten Dauertänzer aus dem Film „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß“. Für Dukakis hatte der Wahltag auf der Landebahn des Flughafens von Des Moines, Iowa begonnen, mit einer Rede vor 3.000 jubelnden AnhängerInnen. Zwei Stunden später stand er im strömenden Regen auf dem Flugfeld in Detroit und hielt noch eine Ansprache, bevor er in seine Heimatstadt Boston weiterflog. Korrekterweise müßte es eigentlich heißen, daß am Dienstag nicht der Präsident, sondern ein Wahlmänner(oder -frauen)-Kolleg gewählt wurde. In jedem US-Bundesstaat erhält der Präsidentschaftskandidat, auf den eine Mehrheit der Stimmen entfallen ist, so viele Wahlmänner, wie dieser Staat Abgeordnete und Senatoren in den Kongreß schickt. Auch wer nur ganz knapp dahinter landet, geht leer aus. Man gewinnt also vor allem „Staaten“, mit Vorliebe große US-Bundesstaaten wie Kalifornien (47 Wahlmänner), New York (36) oder Texas (29). Oft übersehen wird, daß im Schatten des Medienzirkus‘, der um das Amt im Weißen Haus veranstaltet wird, auch das Repräsentantenhaus und ein Drittel der Senatoren neugewählt wird. Wenig Überraschungen waren dabei zu erwarten; mehr als 95 Prozent der Kandidaten für das derzeit klar demokratisch dominierte Repräsentantenhaus werden in der Regel wiedergewählt. Tatsächlich konnten die Demokraten ihren Vorsprung von derzeit acht auf elf ausbauen. Sie werden im nächsten Senat 57 Sitze belegen, die Republikaner 43.
Der Wahl zwischen Bush und Dukakis kommt in diesem Jahr auch für die dritte Gewalt eine entscheidende Bedeutung zu: Drei Mitglieder des neunköpfigen Supreme Court, darunter die zwei liberalsten Richter, sind über achtzig Jahre alt. Präsident Bush wird, falls sie zurücktreten oder im Amt sterben, ihre Nachfolger ernennen können. Er wird diese Chance sicher nutzen, um dem Gerichtshof eine konservative Mehrheit zu geben. Eine konservative Mehrheit im Supreme Court, das kann als sicher gelten, wird das Ende für die 1973 vom gleichen Gericht verordnete liberale Abtreibungsregelung in den USA bedeuten.
Es gibt noch einen weiteren Grund, warum diese Wahl von Bedeutung war: in zahlreichen Staaten standen Referenden über Einzelgesetze zur Entscheidung, die nahezu alle denkbaren Themen betreffen, von AKWs in Massachusetts über das Verbot mancher Handfeuerwaffen in Maryland bis zur ärztlichen Meldepflicht von HIV-Infizierten in Kalifornien. Mit der Rekordsumme von 76 Millionen Dollar focht außerdem die Versicherungsindustrie in Kalifornien gegen eine Senkung der Gebühren für die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung.
Kurzes Zittern für Bush
Um 18 Uhr schließen die Wahllokale in den ersten Staaten an der Ostküste. Im Wahlstudio des Kabelkanals CNN, bekannt durch seine flächendeckenden Nachrichtenprogramme, hat man sofort eine erste Hochrechnung parat: 77 Prozent für Bush, 23 Prozent für Dukakis, ein wahrhaft sensationelles Ergebnis, wenn es nicht auf einer absurd kleinen Stichprobe basieren würde. Bevor weitere Zahlen vorliegen, erfahren wir, daß Vizepräsidentschaftskandidat Quayle, wie stets am Wahltag, sich auch heute beim Dentisten die Zähne reinigen ließ. Dann habe er seine Stimme abgegeben. Um 18 Uhr 10 erste Zahlen aus Kentucky: 16 Punkte Vorsprung füBush. Dann ein Abstecher zum Senatsrennen in New Jersey, wo wochenlang die verbalen Fetzen geflogen sind. Kandidat Lautenberg geißelt seinen Gegner, den Footballstar Pete Dawkins, er habe in seinen Fernsehspots nicht mal den Namen des Konkurrenten richtig geschrieben. Stimmt, wir sehen es, „Lautenburg“ schrieb Dawkins, wie dumm nur. Dann ein kurzer Film über den Tag im Bush-Camp, wo man gestern morgen angeblich kurzfristige Schweißausbrüche bekommen hat, weil Bushs landesweiter Vorsprung über Nacht auf drei Punkte zusammengeschmolzen war. Dukakis hatte in den letzten Tagen heftig aufgeholt, weil sich die meisten unentschlossenen WählerInnen zuletzt für ihn, den neuen, kämpferischen Dukakis, den wiedergeborenen Liberalen „in der Tradition von Roosevelt, Truman und Kennedy“, entschieden haben. Eine halbe Stunde Sendezeit hatte er am Vorabend der Wahl gekauft, um einen letzten guten Eindruck auf die Fernsehzuschauer zu machen, mit Erfolg. Die Dukakis-Leute haben bis zum Wahltag an die Möglichkeit geglaubt, die Wahl gewinnen zu können.
18 Uhr 37, Senator Lugar ist in Indiana wiedergewählt worden, „keine Überraschung“. Die meisten Senatoren und Kongreßabgeordneten werden wiedergewählt, einfach schon deswegen, weil sie viel mehr Wahlkampfspenden von der Industrie bekommen als ihre Herausforderer. In den USA gebe es den „besten Kongreß, den man mit Geld kaufen könne“, heißt der Titel eines neuen Buches von Philip Stern, in dem erläutert wird, wie einflußreiche Verbände sich das Wohlverhalten der Kongreßabgeordneten sichern: über den Geldhahn. Wahlkämpfe sind mittlerweile so teuer, daß die Abgeordneten einen großen Teil ihrer Zeit mit Geldeintreiben zubringen. 23 Millionen Dollar hat der Senatswahlkampf allein in Kalifornien in diesem Jahr gekostet. Wenn der Gewinner in sechs Jahren wiedergewählt werden will, muß er in jedem Monat seiner Amtszeit 150.000 bis 200.000 Dollar einnehmen.
18 Uhr 40: Wir sehen einen Filmbericht aus Kalifornien. Ein Lebensmittelhändler dort hat offenbar nicht nur Sterns Buch gelesen, sondern auch gleich die logische Konsequenz auf seine braunen Papiertüten drucken lassen: „Don't Vote!“. Eine Sandwich-Bude gibt dagegen allen, die gewählt haben, einen Dollar Rabatt. Wählen in Kalifornien ist mühsam, denn es gibt ungeheuer viele lokale Referenden zu entscheiden. In San Francisco muß man über fünfzig Kreuzchen machen, so daß einige Wahllokale Kabinen zur Expreß-Wahl reserviert haben: nur diejenigen dürfen dort hinein, die sich vorab in allen Fragen eine Meinung gebildet haben. Sonst ist der Aufenthalt in der Kabine auf zehn Minuten begrenzt.
Kurz vor sieben. Ein dreijähriges Mädchen wird von einer Reporterin gefragt, ob sie einen Favoriten habe für die Präsidentschaft. „Ja“, kräht sie, „meine Mom!“. Um sieben wird es ernst, die ersten Ergebnisse aus den Staaten im Süden laufen ein. Bush sammelt die ersten Wahlmänner in Florida, Georgia, South Carolina, Virginia und Kentucky ein, prophezeiht NBC. Außerdem gewinne er Indiana und New Hampshire. Landesweit liegt Bush bei 58 Prozent, Dukakis bei 42 Prozent. Weitere Senatssitze werden entschieden: der Demokrat Chuck Robb gewinnt den zuletzt von einem Republikaner gehaltenen Senatssitz für Virginia. Typisch für die Wähler in den Südstaaten: ihre hausgemachten, eher konservativen Demokraten wählen sie in den Kongreß, doch einem Liberalen aus Massachusetts wollen sie das Weiße Haus nicht überlassen.
Demokraten gewinnen
im Senat
Auch in Florida wird ein Demokrat Senator, obwohl der Staat mit weitem Vorsprung an Bush fällt. Daß Dukakis in den Südstaaten keine Chance hat, war zuletzt erwartet worden. So ist es durchaus nicht verwunderlich, wenn CNN noch um 19 Uhr 30 eine insgesamt knappe Wahl prophezeit. 19 Uhr 35: auch Alabama fällt an Bush. Bushs ehemaliger Konkurrent Bob Dole hat wenig Gutes über dessen Vizekandidat Dan Quayle zu sagen: falls Bush nach der fähigsten Person gesucht hat, hätte er eine bessere Wahl treffen können. 16 Prozent der Wählerschaft, so ergab eine Umfrage, gaben Dukakis wegen Dan Quayle den Vorzug vor Bush. Um 20 Uhr kippten North Carolina, Oklahoma und Kansas in Bushs Lager. Noch eine Umfrage. sechs von zehn Demokraten, die bei den letzten beiden Wahlen für Reagan gestimmt haben, sind diesmal in das Dukakis-Lager zurückgekehrt. Bush hat inzwischen fast 100 Wahlmänner, Dukakis erhält zu diesem Zeitpunkt seine ersten drei im District of Columbia. Um 20 Uhr 20 behauptet Senator Phil Gramm in Bushs Hauptquartier, er höre die dicke Lady bereits singen, sie singe George Bushs Lied. Sein Verdacht bestätigt sich in der nächsten halben Stunde, als Ohio und New Jersey an Bush fallen. Dukakis verliert diese beiden Staaten, auf die er eigentlich fest gerechnet hatte, ebenso wie Pennsylvania, Illinois und Michigan. Gewonnen hat er Massachusetts und Rhode Island, New York, Wisconsin und Iowa. Um 23 Uhr 15 erscheint er in seinem Wahlkampfhauptquartier, zu den in seiner Kampagne schon traditionellen Klängen von Neil Diamonds „Coming to America“ und einer brillanten High-Tech-Lasershow, die die Freiheitsstatue an die schwarze Wand malt. „Ich habe soeben mit George Bush telefoniert und ihm zu seinem Sieg gratuliert. Ich weiß, daß ich für euch und die Nation spreche, wenn ich sage, daß er unser aller Präsident sein wird. Unser Land sieht sich großen Herausforderungen gegenüber, die wir gemeinsam angehen müssen.“ Abgesehen von der abermals verlorenen Präsidentschaft war es eine gute Nacht für die demokratische Partei. Sie eroberte den Gouverneurssitz in West Virginia und in Indiana, sie gewann Senatssitze in Virginia, Nebraska und Connecticut. Dort verlor Lowell Weicker, der liberalste Republikaner im Senat, gegen einen konservativeren Demokraten. Verloren hat die Demokratische Partei hingegen einen Senatssitz in Mississippi. Dukakis hat zwar den Staat Texas verloren, doch Lloyd Bentsen hat seinen Senatssitz im selben Staat wiedergewonnen. Von diesem Platz aus wird er als Vorsitzender des Finanzausschusses größeren Einfluß auf die Washingtoner Politik ausüben, als er es als Vizepräsident jemals gekonnt hätte.
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