DAS LITERARISCHE WIRTSCHAFTSWUNDER

■ Eine Ausstellung der 'Gruppe47‘ in der Akademie der Künste

Viel bekannte Gesichter blicken aus den Vitrinen, bekannte Namen machen die Gesichter dingfest in der Geschichte der Nachkriegsliteratur, die Buchleiber, teils bekannte, teils eher unbekannt gebliebene, geben den namhaften Gesichtern und Gestalten auf den Photographien Präsenz. Manuskriptblätter und Briefe glossieren, unterbrochen von Kommentartexten, die das Leben und Treiben sowie das Reisen und Tagen von rund zwanzig Jahren deutscher Nachkriegsliteratur erklären - die Geschichte dieser chimärischen 'Gruppe47‘, von der Ernst Schnabel 1952 sagte: „Was das ist, 'Gruppe 47‘, ist gar nicht zu sagen. Es ist kein Verein, sie hat keine Mitglieder, sie wurde nicht recht gegründet und hat keine Ziele - sie ist einfach entstanden.“

Trotzdem können - oder müssen sogar - die Augen sich über den Vitrinen in eine Flut von Texten saugen, die keine Gründungsakten, Vereinssatzungen und Sitzungsprotokolle sind, sondern Dokumente zur zwanzig Jahre wärenden Nachgeschichte des auch literarisch vorherrschenden Nullpunkt-Bewußtseins mit seinen Aufbruchstimmungen und Resignationserscheinungen. Denn die 'Gruppe47‘ gab es nun einmal auch ohne Mitgliedschaft, Satzung und Programmentwurf; sie war und bleibt sogar fast identisch mit der Nachkriegsliteratur überhaupt und ist letztlich die Monopolgesellschaft für den literatischen Erfolg in der Wirtschaftswunderzeit gewesen, die auch ein Epoche der Restauration Deutschlands war.

Als Bilderchronik zieht sich um die beiden Ausstellungsräume in der Akademie das Nullpunktgeschehen von Trümmerdeutschland bis zu den Straßentumulten im Berlin der Jahre 1967 und 1968. Das ist der historische Rahmen, in dem sich die in sechs Zeitabschnitte eingeteilte Chronologie des literarischen Aufbauprogramms darstellt. Von der Rückkehr von Hans Werner Richter und Alfred Andersch aus amerikanischen Kriegsgefangenenlagern über die Gründung der aus den US-Lagern mitgebrachten Zeitschrift 'Der Ruf‘, die zeitweise bis zu 70.000 Auflage hatte und der im Frühjahr 1947 nach Querelen mit der amerikanischen Besatzung die Lizenz entzogen wurde, bis zu den Literaturtreffen in idyllischen Umgebungen bei Füssen und Ulm und der langen Reihe von Tagungen in ständig sich erweiternden Reisebewegungen bis hinüber in die USA nach Princeton.

Das war 1966, als der Vietnam-Krieg sich längst auch in die Phantasien der deutscher Schriftsteller zu fräsen begonnen hatte. Die inzwischen als Repräsentantin der Bundesrepublik etablierte Gruppe mitten in einem der Hirnkästen des US -Imperialismus die Literatur zu pflegen lassen, erregte deshalb Mißstimmungen. Böll räsonnierte darüber, Peter Weiss gab ketzerische Interviews in der 'New York Times‘, Grass schimpfte Weiss für seine Forderung nach schriftstellerischem Engagement aus. Peter Handke betätigte sich als rebellischer Literatenbeschimpfer, und Marcel Reich -Ranicki, einer unter den vielen Großkritikern und Literaturagenten in der 'Gruppe47‘, langweilte sich bei alledem.

Ein Jahr später, beim Treffen im Gasthof „Pulvermühle“ flog die 'Gruppe47‘ - SDS-Mitglieder gaben vor der Tür die Parole aus: „Hier tagt die Familie Saubermann“ - mehr oder weniger sang- und klanglos in die Luft. Viel Pulver war dazu nicht nötig. Die Posten im Literaturbetrieb waren verteilt, aus Nachwuchsliteraten hatten sich Schriftstellergrößen herausgemacht, ihr Betrieb funktionierte nun auch ohne das Schmieröl gegenseitiger Handreichungen von Dichtern, Verlegern und Kritikern, der Aufbruch konnte gelassen zu den Dokumenten der Geschichte gelegt werden. Die Literaturbetriebsausflüge konnten eingestellt werden.

Wer sich in der Akadamie durch die Chronik der abgelaufenen Geschehnisse bewegt, die fünf podestgebauten Kleingebirge erklimmt, welche die ersten fünf Ausstellungsabteilungen tragen, ist verloren beim Versuch, sich durch die angebotenen Texthinterlassenschaften der 'Gruppe47‘ hindurchzulesen. Zu entziffern, was Hans Magnus Enzensberger aus Norwegen an den absolutistischen Gruppenführer Richter schrieb; wie sich die Gruppe zur Atomrüstung der Bundesrepublik Ende der fünfziger Jahre stellte; was Peter O. Chotjewitz zur Princeton-Tagung notierte, dürfte schätzungsweise eine volle Woche beanspruchen.

Die Fotografien dagegen garantieren zu den nach und nach immer vertrauter werdenden Gesichtern eine abgestufte Folge von Aha-Erlebnissen, wenn sich am Wechsel von Gesichtszügen, der Kleidung, des Habitus das Altern und Etablieren der literarischen Wirtschaftswunderkinder zeigt und mit gemischten Gefühlen die bekannten Gesichter immer wieder erkannt werden können. Auch das langsame Einsinken derjenigen in den Fundus der Wiedererkennbarkeit, die durch Richters Einladungskarten dem exklusiven Zirkel nach und nach zugeführt wurden, läßt ein gewisses Vergnügen zu, die Selektionsfähigkeit der 'Gruppe47‘ gegenüber der Kulturfähigkeit späterer Generationen zu studieren. Ganz im Stil knöcherner Verständnislosigkeit für Töne aus einer Welt, die sich mit der eigenen eingespielten nicht mehr vertrug, schrieb Richter zum berühmten Flugblatt8 der Kommune1 („Wann brennen die Berliner Kaufhäuser“): „Es sind Texte von Wichtigtuern, dumm, arrogant, unpolitisch, geschmacklos, Texte einer schlechtgemachten und miserabel geschriebenen Bierzeitung.“ So klingt eben überall das Esperanto - sei es auch eines linken Establishments -, wenn für die Verteidigung der eigenen Errungenschaften ambivalente Provokationen müde verworfen werden, weil von ferne schon das Bundesverdienstkreuz blinkt.

Die Ausstellung in der Akademie ist zwar überladen mit Texten, deren Lektüre von den Bildern und Illustrationen zur Geschichte der 'Gruppe47‘ nicht sonderlich beflügelt wird, weil diese - mit wenigen Ausnahmen - keine optische Autonomie besitzen: aber sie bietet so viel Material aus der Zeit, als die 'Gruppe47‘ zur beherrschenden Literaturmacht der Bundesrepublik wurde, daß sie spielend ein Laboratorium für alle möglichen Versionen davon zur Verfügung stellt, was diese Gruppe war, von der sich auch heute nicht eindeutig mehr sagen läßt, als das sie entstanden ist und am Ende des auch literarischen Wirtschaftswunders wieder verschwand.

Uwe Pralle

Dichter und Richter. Die Gruppe 47 und die deutsche Nachkriegsliteratur, 28.10.-7.12.88, Akademie der Künste, tägl. 10-19, montags ab 13 Uhr, mittwochs Eintritt frei.