: Ungar vor Nato-Parlament
In Hamburg tagt die Nordatlantische Versammlung / Ungarischer Redner bezeichnet Präsenz fremder Armeen in europäischen Ländern als Anachronismus ■ Aus Hamburg Kai Fabig
Wenn die zur Zeit in Hamburg tagende Nordatlantische Versammlung (NAV) morgen ihre Entschließung zum Hauptthema der Tagung, „Gorbatschows Herausforderung für das Bündnis“, beraten wird, dürfte es zu einigen interessanten Diskussionen kommen. Denn sieben ParlamentarierInnen aus sechs Nato-Staaten haben Änderungsanträge zu dem Entwurf des norwegischen Konservativen Jan Petersen erarbeitet, die aus dem Dokument des Aufrüstungswillens und der Angst vor der steigenden Popularität des sowjetischen Parteichefs eine friedenspolitische Resolution machen würden. Dabei wird vor allem interessant sein, ob die versammelten Dr.Seltsams die Bombe so sehr lieben, daß sie bei den einzeln abzustimmenden Änderungsanträgen auch eine so neutrale Forderung wie die nach dem unverzüglichen Beginn von „Verhandlungen über die Begrenzung und den Abbau aller Atomwaffen in und für Europa“ ablehnen werden. Daß die ebenfalls geforderten einseitigen Abrüstungsschritte sowie der Verzicht auf „Modernisierungsprogramme“ keine Zustimmung finden werden, ist nach dem bisherigen Verlauf der NAV ohnehin klar. Trotzdem hat der auf Initiative der bundesdeutschen NAV -Mitglieder Angelika Beer (Grüne) und Alfred Mechtersheimer (parteilos) zustande gekommene Vorstoß eine politische Bedeutung. Sie liegt zum einen darin, daß vor allem sozialdemokratische und sozialistische NAV-Delegierte gezwungen sein werden, Farbe zu bekennen, zum anderen darin, daß damit die Zusammenarbeit Nato-kritischer ParlamentarierInnen begonnen hat.
Auf der Veranstaltung Zukunft ohne Nato diskutierten am Montag abend ParlamentarierInnen aus Belgien, den Niederlanden, Italien, Spanien, Dänemark, Großbritannien und der BRD über die zukünftigen Aufgaben der Friedensbewegung in ihren Ländern und die Richtigkeit bzw. Relevanz der Forderung nach einem Austritt aus der Nato. Dabei wurden zum Teil erhebliche Meinungsunterschiede deutlich. Während die südeuropäischen Vertreter die Rolle der Nato im Nord-Süd -Konflikt betonten, stand für die anderen die Ost-West -Konfrontation im Vordergrund. Der belgische Vertreter hob hervor, daß ein solcher Austritt nur unter der Voraussetzung akzeptabel sei, daß er mit massiver Abrüstung einherginge, während Frank Cook von der britischen Labour-Party einen Austritt für einen grundsätzlichen Fehler hielt. Man könne das Unkraut in einem Garten nur jäten, wenn man ihn nicht verlasse, umschrieb er seine Hoffnung in die Reformierbarkeit der Nato, bei der gerade die bundesdeutschen Grünen eine wichtige Rolle spielen könnten.
Der zweite Tag der Ausschußarbeit der NAV begann mit einem Novum: Gynla Horn, Staatssekretär im ungarischen Außenministerium, ist der erste Vertreter Osteuropas, der vor der NAV redet. Seine Kritik an der Präsenz fremder Armeen in europäischen Staaten als „Anachronismus“ wurde von den NAV-Mitgliedern vor allem als Kritik an der Stationierung sowjetischer Truppen in Ungarn aufgefaßt. Besonders pikant war dann, daß ausgerechnet ein türkischer Delegierter Horn nach der Situation der ungarischen Minderheit in Rumänien fragte. Als höflicher Gast antwortete Horn allerdings nicht mit der Gegenfrage nach den Kurden, sondern beschränkte sich darauf, die rumänische Politik „katastrophal“ zu nennen.
Der Auftritt des US-Militärstrategen Fred C. Ikle hingegen war in erster Linie etwas für die Freunde von Peter Sellers. Denn Ikle soll Sellers als Vorlage für seinen Dr.Seltsam gedient haben. Auch wenn Ikle in seinem Vortrag die Strategie der flexiblen Antwort als überholt kritisierte, hat sich sein Denken, das auch heute in den USA noch erhebliches Gewicht hat, nicht grundlegend geändert. Der Militästratege betonte, an der „gegenseitig gesicherten Zerstörung“, in der englischen Abkürzung: MAD, weiter festhalten zu wollen. Heute wird die NAV von einer Großdemonstration der norddeutschen Friedensbewegung begleitet.
Ein „Schnippchen“ haben die Mitglieder dagegen der NAV in Lübeck einer Gruppe von Demonstranten geschlagen: Knapp 100 Protestler, die sich vor der Lübecker Waldersee-Kaserne versammelt hatten, warteten vergeblich auf die NATO -Parlamentarier. Entgegen der ursprünglichen Ankündigung waren sie mit neun Bussen direkt von Hamburg aus unbehelligt zu einer Besichtigung der innerdeutschen Grenze an fünf verschiedenen Punkten in den schleswig-holsteinischen Landkreis, das Herzogtum Lauenburg, gefahren.
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