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Tempotaschentuchergreifend

■ Anton Dvorak dankte am Bußtag dem HERRn, daß er der Welt das Böhmerland und seinen Sohn gegeben hat, mit einem traumhaften Requiem b-Moll, op.89 im St. Petri Dom

„Sanctus Dominus Deus Sabaoth“ schmeichelt sonor der Bassist dem HERRn und unserem Ohr. Sahnig rund verströmt der Chor das Lob des HERRn. Das sind die gewohnten Töne am gewohnten Ort am Bußtage. Romantisch verklärte Religiosität durchwabert die heiligen Hallen. Ein ganz Naiver scheint da am Werke zu sein. Vielleicht früher Mendellsohn?. Kräftiges, rabenschwarzes Blech fährt dazwischen, mächtig dröhnt die Pauke. Sind das nicht Liszts oder Berliozs gewaltige Federstriche? Nein, weiter geht's mit leise verhaltenem „pleni sunt coeli“, gedämpfter Jubel in wattigen Wolken. Da löst sich zart aber in kühnem Aufschwung eine silbern-helle Sopranstimme aus dem milchigen Dunst, hebt ab in luftige Höhen, nur durch des Chores und der Kollegen Solisten fein gewebtes Netz am Absturz gehindert, und plötzlich weitet sich der Blick, der Himmel reißt auf, und vor uns, greifbar und doch entrückt, liegt - einige Holzbläserkantilen zuvor lassen überhaupt keinen Zweifel zu - das Böhmische Becken. Mächtige Flüsse gleißen im durchbrechenden Sonnenlicht, harmonische Bergkegel befreien sich vom lichten Gewölk, liebreizende Städtchen

schmiegen sich in sanftge schwungene Täler. Aus tiefem Grund schreitet aufrecht und ein wenig gravitätisch ein Mensch, vom ergriffenen Jubel des Volkes begleitet. Es ist, so sagt es der Text, der Sohn des HERRn.

Dieses Bild malt mit kräftigem innigem Pinselstrich Antonin Dvorak. Er dankt so dem Schöpfer, daß er der Welt das wunderschöne Böhmerland und seinen Sohn gegeben hat. Er dankt mit Tränen der Wonne und des Schmerzes, und auch der Rezensent, der ausgezogen war, dem lauen, unentschiedenen Antonin ordentlich eins überzubraten, sucht ergriffen nach dem zerknüllten Tempotaschentuch.

Dvoraks emotional packendes Requiem hat es in unseren Breiten schwer. Die Liebhaber der Sinfonie „Aus der neuen Welt“ und des „amerikanischen Streichquartetts“ schreckt die Aussicht, dem jüngsten Gericht zu begegnen, die Liebhaber zerknirschter musikalischer Versenkung ins Religiöse fürchten den Einbruch des Trivialen ins Allerheiligste. Dvorak enttäuscht die Erwartung beider Gruppen auf das Angenehmste und bietet auch dem musikhistorisch Interessierten die Möglichkeit, auf musikalische Abenteuerfahrt zu gehen, die spannend und

anrührend zugleich ist. Dvorak entfaltet keine theatralische Horrorvision des Jüngsten Gerichts, keinen „dance macabre“, seine Auferstandenen treten dem gestrengen Richter nicht mit scheppernden Knochen entgegen, sie ziehen erhobenen Hauptes mit Zuversicht und Gottvertrauen dem HERRn entgegen, ein Marschlied auf den Lippen (natürlich verhalten, aber von ungeheurer Innenspannung).

So entsteht neben der sozialrevolutionären Sicht von Liszt und Berlioz, der protestantisch-innerlichen Variante von Brahms und dem spekulativen Theaterdonner Verdis ein fast utopisches Bild des Christentums, Katholizismus mit menschlichem Anlitz sozusagen.

Zu hören war eine Aufführung, die trotz ihrer Wärme nicht in Emotionen zerfloß. Helbig musizierte klar und durchhörbar. Das Orchester überzeugte trotz einiger Intonationstrübungen mit kraftvollem Blech- und idyllischen Holzbläserklang. Zentral für die emotionale Wirkung des Werkes war natürlich die Klangschönheit des Domchores und seine musikantischen Qualitäten, die sich harmonisch mit denen des homogenen, ganz unspektakulär singenden Solistenquartetts verband.

Mario Nitsche

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