: „Jede Nacht ist Kristallnacht“
■ Wie die Juden den deutschen Kanzler wieder koscher machten
Henryk M. Broder
Dder Times Square im Zentrum von Manhattan gilt als der Sündenpfuhl von New York City. Porno-Shops reihen sich an Sex-Kinos, Peep-Shows an schummerige Etablissements. Was aber eine richtige Sauerei ist, das hat man auch in dieser Gegend bis zum Montag letzter Woche nicht gewußt. An jenem 14.November sind neue Maßstäbe in puncto Obszönität gesetzt worden, seitdem hören die Begriffe „Schmutz und Schund“ auf zwei bekannte Namen: Helmut Kohl und Simon Wiesenthal.
Das muß begründet werden, damit dem Leser die grundsätzliche Bedeutung des Vorgangs, um den es geht, bewußt wird.
Das Simon-Wiesenthal-Center, eine 1977 in Los Angeles gegründete, inzwischen überregionale Organisation, die sich der Pflege der Erinnerung an den Holocaust widmet, veranstaltet zum 80.Geburtstag des Namensgebers ein festliches Bankett. Rund 800 Gäste, die je nach Sitzplatz 500 bis 1.000 Dollar pro Gedeck bezahlt haben, kommen im Broadway-Ballroom des Marriott Hotels am Times Quare zusammen. Als Festredner und Laudatio-Halter wurde kein geringerer als der deutsche Bundekanzler Helmut Kohl verpflichtet.
Gegen 19 Uhr hebt das festliche Ereignis an. Eine kleine Combo - zwei Geigen, eine Trompete, Klavier und Schlagzeug spielt halblaut „Dancing Cheek to Cheek“, derweil halten die Gäste, die Herren im Smoking, die Damen in Abendkleidern, Einzug in den Ballsaal. Das Ganze könnte von Peter Zadek inszeniert worden sein, von der Pressegalerie aus betrachtet sieht der abgedunkelte Broadway Ballroom wie eine offene Bühne aus, auf der die Schauspieler die Ausgangspositionen einnehmen. Es dauert eine Weile, bis alle ihre Plätze gefunden haben. Am rechten Rand der Bühne, direkt neben der Combo, die einen Evergreen nach dem anderen spielt, stehen zwei Fahnen, die bundesdeutsche und die israelische, am anderen Ende der Bühne hat man das Sternenbanner plaziert. An einem langen Tisch an der Breitseite haben die Ehrengäste Platz genommen, sie werden einzeln vorgestellt und mit Applaus begrüßt. Drei Plätze in der Mitte des Ehrentisches sind frei geblieben.
Zwei sind für Helmut Kohl und Frau Hannelore vorgesehen. Als das Kanzlerehepaar aus der Kulisse die Bühne betritt und von dort auf den Ehrentisch zusteuert, stimmt die Combo das israelische Lied „Havejnu schalom alejchem“ an - „Wir bringen euch Frieden“. Und dann erscheint der Mann, dessentwegen das Bankett stattfindet: Simon Wiesenthal, „freelance Nazi hunter“, freiberuflicher Nazijäger, so steht es in der Pressemappe, die an die anwesenden Journalisten ausgeteilt wurde. Er trägt einen Smoking, sieht überhaupt nicht wie ein Jäger aus oder als käme er gerade von einer Safari. Die Combo hat schnell die Noten gewechselt, sie spielt jetzt „Sag nicht keinmal, as du gajst den letzten Weg“ (Sage nicht, dies ist dein letzter Weg). Wirklich, so war's, während Simon Wiesenthal, gut gelaunt und händeschüttelnd, die letzten Meter von der Bühne bis zu seinem Ehrenplatz zurücklegt, spielt die Combo das Lied, mit dem die jüdischen Ghetto-Kämpfer und KZ-Gefangenen in den Tod gingen. Und Kanzler Kohl, der schon oft in delikaten Situationen sein sicheres Gespür für das richtige Verhalten bewiesen hat, stand da und klatschte rhythmisch in die Hände, wie es auch beim Einzug der Redner im Mainzer Karneval der Brauch ist.
Wer hätte es sich vor 50 Jahren vorstellen können“, schwärmte die Moderatorin des Abends, die TV-Reporterin Lesley Stahl, „daß wir uns alle hier heute treffen würden, um miteinander zu feiern. 1938 war Simon Wiesenthal ein junger Architekt in Polen, und Kanzler Kohl war damals gerade acht Jahre alt. Die Wahrscheinlichkeit war nicht groß, daß sie sich jemals treffen würden, aber ihre Wege kreuzten sich und sie wurden Freunde...“ Dem Holocaust sei Dank, das Schicksal hat es mit beiden gut gemeint.
Die Rede, die Kanzler Kohl anschließend in fließendem Pfälzisch hielt, war ein weiterer Beleg dafür, daß auch die Deutschen das gute Recht haben, sich als Opfer zu fühlen. Aber auch die Juden können nun nicht mehr sagen, sie hätten von nichts gewußt. Helmut Kohl begann seine Laudatio auf Simon Wiesenthal mit einigen Bemerkungen über seinen gestrauchelten Parteifreund Philip Jenninger, der eine knappe Woche zuvor mit seiner Rede zur „Reichskristallnacht“ im Bundestag für einen dicken Eklat gesorgt hatte. Kohls apologetisches Statement soll hier, for the record of history, im Wortlaut wiedergegeben werden:
„Lieber Simon Wiesenthal, Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich, bevor ich mich an Sie, lieber Freund Simon Wiesenthal, wende, zu Beginn einige Worte sagen zu der Rede, die Philipp Jenninger als Präsident des Deutschen Bundestages am vergangen Donnerstag in Bonn gehalten hat. Ich weiß, daß diese Rede, die Reaktionen in der BRD und auch sein Rücktritt vom Amt, hier, in den USA, in Israel und anderswo große Beachtung gefunden hat. Er selbst hat dazu erklärt, ich darf ihn zitieren: 'Die Reaktionen auf meine gestrige Ansprache vor dem Bundestag haben mich erschreckt, und sie bedrücken mich auch. Meine Rede ist von vielen Zuhörern nicht so verstanden worden, wie ich sie gemeint hatte, ich bedaure das zutiefst, und es tut mir sehr leid, wenn ich andere in ihren Gefühlen verletzt habe.‘ Ende des Zitats. Ich selbst, meine Damen und Herren, darf zufügen, daß Philipp Jenninger während seiner ganzen politischen Laufbahn als einer meiner Weggenossen in vielen Jahrzehnten, zuletzt auch als Präsident des Deutschen Bundestages, sich in einer ganz besonderen Weise für die Aussöhnung mit den Juden und für die Lebensinteressen des Staates Israel eingesetzt hat. Er war stets ein kompromißloser Gegner jeder Form totalitärer Herrschaft, nicht zuletzt aufgrund seiner sehr persönlichen Erfahrung und Erfahrung seiner Eltern während des nationalsozialistischen Regimes. Seine politische Integrität und die Redlichkeit seiner Ansichten sind gerade auch in Israel nach seinem Rücktritt ausdrücklich anerkannt worden...“
Kohl verlor kein Wort zu der umstrittenen Rede selbst. Er enthielt sich jeder Stellungnahme darüber, daß der Präsident des Deutschen Bundestages ausgerechnet bei Gelegenheit einer Gedenkfeier zur Kristallnacht die Jahre 1933 bis 1938 als ein „Faszinosum“ bezeichnete und, „was die Juden anging“, anfragte, ob sie „sich nicht doch eine Rolle angemaßt hatten, die ihnen nicht zukam“, ob sie es „nicht vielleicht sogar verdient hatten, in ihre Schranken gewiesen zu werden“. Kohl fand es auch nicht erwähnenswert, daß eine Anzahl von Abgeordneten aus Protest gegen Jenningers Rede den Sitzungssaal verlassen und daß es in der deutschen Öffentlichkeit lautstarke Proteste gegen Jenningers peinlichen Auftritt gegeben hatte. Für alle diese Reaktionen gab es offenbar keinen Grund, war doch Philipp Jenninger ein braver Mann, der sich für die „Aussöhnung mit den Juden“ eingesetzt hatte und dessen „persönliche Integrität und Redlichkeit“ auch in Israel anerkannt wurden. Und Kohls New Yorker Publikum nahm ihm diese Darstellung ab. Es war der Ausgleich für die Demütigung, die er in Bonn erleiden mußte. Der deutsche Bundeskanzler holte sich bei den Juden in New York jene Absolution, die ihm daheim verweigert wurde. Kurzum: Die Juden machten den deutschen Kanzler wieder koscher.
Es gibt nichts Böses, das nicht auch seine guten Seiten hätte. Nicht nur hätten S.W. und H.K. ohne den Holocaust keine Chance gehabt, einander zu treffen und gute Freunde zu werden, auch die New Yorker Juden wären um die Gelegenheit gekommen, ein feierliches Dinner zu zelebrieren. Der Holocaust ist zu einem gesellschaftlichen Ritual geworden, zu einem Anlaß, Abendkleider vorzuführen und Reden zu halten. Und eine beachtliche Anzahl von Würdenträgern und Funktionären hat eine Spielwiese gefunden, einen Abenteuerspielplatz, auf dem die Reise nach Auschwitz gefahrlos nachvollzogen werden kann. „Für uns hier, meine Freunde“, sagte Rabbiner Marvin Hier, Gründer des Simon -Wiesenthal-Centrums, in den USA geboren und aufgewachsen, in seiner Grußadresse, „Für uns ist jede Nacht Kristallnacht...“
So wird mit den Opfern der Nazis zum zweiten Mal Schindluder getrieben. Ein Satz wie dieser bleibt in der Luft stehen, ohne daß derjenige, der ihn ausgesprochen hat, vom Erdboden verschluckt würde; die Trittbrettfahrer der Geschichte holen nun nach, was vor vierzig, fünfzig Jahren, als Hunderttausende von Juden vergeblich auf Hilfe hofften, unterlassen wurde: Sie erklären sich zum Nulltarif mit den Opfern solidarisch und sich selbst zu Opfern zweiter Hand. Simon Wiesenthal, der weiß, was Verfolgung bedeutet, der sich nicht zum Opfer honoris causa stilisieren muß, gibt dem Festival der Schamlosigkeit seinen Namen. Wie weit geht ein Mensch in seiner ungestillten Sehnsucht nach Anerkennung?
Auf die Einladung zum festlichen Bankett war neben einem Porträt von Wiesenthal auch ein Satz von ihm gedruckt: „Wenn ich sterbe und in den Himmel komme, werde ich die Opfer des Holocaust treffen. Sie werden mir sagen, was sie zu ihren Lebzeiten gemacht haben. Und wenn sie mich dann fragen werden, was ich getan habe, werde ich antworten: ,'Ich habe Euch nie vergessen.'“
Kann sein, daß sich einige mit dieser Antwort nicht zufrieden geben werden.
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