: „Ich sollte wohl provoziert werden
■ Gedächtnisprotokoll Shenja-Paul, Verfasser des Artikels zu den Streiks in Polen
Am 22.September wurde ich von meinem Klassenlehrer aus dem laufenden Unterricht geholt. Zwei Tage zuvor hatte er mit meinem Eltern ein Gespräch für den Abend des 22.9. verabredet. Im Schulsekretariat waren bereits Herr Forner (Direktor der EOS „Carl von Ossietzky“), Frau Eulitz (Lehrerin und Parteisekretärin der Schule), Thomas Hammer (GOL-Sekretär), Thomas Tanneberger (Mitglied der GOL) und drei weitere Personen anwesend, als ich mit meinem Klassenleiter den Raum betrat.
Von mir unbekannten Personen wurde während der Befragung protokolliert. Mir wurde das Protokoll nie zur Kenntnisnahme vorgelegt. (...) Die Befragung wurde von Herrn Forner geleitet. Er forderte mich auf, ich solle mich zu folgenden Punkten äußern:
1. Teilnahme an der Kundgebung am 11.9.88 mit eigenem Spruchband; 2. Fertigung eines Artikels zu den Ereignissen in Polen; 3. Unterschriftensammlung; 4. Anbringung des Gedichts am Speakers Corner; 5. Äußerung in KOL -Wahlversammlung.
Auf die Frage des Direktors, ob es neofaschistische Tendenzen in der DDR gebe, habe ich mit „ja“ geantwortet und erklärt, daß ich solche aus eigenem Erleben kenne und meine, daß man davor die Augen nicht verschließen dürfe. Zum „Polenartikel“ habe ich geäußert, daß am Speakers Corner eine inhaltliche Diskussion stattgefunden hat. Die Meinung der Mehrzahl der Schüler war positiv, sie empfanden eine solche Diskussion als nötig, wichtig und auch von uns (den Autoren) sachlich geführt. (...) Zur Unterschriftensammlung wurde mir vorgeworfen, daß wir keine Frage hätten stellen wollen, sondern eine Meinung bekundet hätten. Ich meinte dazu, daß man auch durch eine Meinungsäußerung eine Frage stellen könnte. Ich habe weiter gesagt, daß ich den Text anders formuliert hätte, aber unterschrieben habe, weil ich ebenso wie der Verfasser meine, daß man im gegenwärtigen Entspannungsprozeß auf die Militärparade verzichten könnte. Mir wurde vorgeworfen, daß das Anbringen des Gedichts eine Provokation gewesen wäre, dazu habe ich geäußert, daß für mich das Gedicht an sich eine Provokation darstellt.
Weiter wurden mir meine Äußerungen in der FDJ-Versammlung meiner Klasse vorgeworfen, in der ich von dem GOL-Mitglied Thomas Tanneberger für meinen „Polenartikel“ angegriffen wurde. Er sagte, auch die freie Meinungsäußerung habe ihre Grenzen. Ich sagte darauf, daß diese Grenzen aber durch die Verfassung der DDR und nicht durch ihn gesetzt würden. Diese Äußerung wurde mir jetzt wiederum vorgeworfen. Ich erklärte darauf, daß der Vorwurf wohl vorwiegend deshalb komme, weil die Mehrzahl der Klasse mir zugestimmt hatte.
Ich habe während der Befragung mehrfach erklärt, daß ich jederzeit zu einer inhaltlichen Diskussion bereit bin. Weiter habe ich erklärt, daß ich genauso bereit bin, inhaltliche Argumente zu überdenken und wenn sie mich überzeugen, meine einmal gefaßte Meinung zu ändern. Darauf erklärte Herr Direktor Forner, es gebe keine Diskussion, ich solle nachdenken. Er verwies mich auf die Zulassungsordnung für die Erweiterten Oberschulen. Bei der Befragung herrschte eine eisige Atmosphäre, ich hatte das Gefühl, es findet eine Vernehmung statt. Eine der mir unbekannten Personen stellte mir mehrmals Fragen, bei denen ich den Eindruck hatte, ich solle provoziert werden.
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