: Die geballten Fäuste blieben in der Tasche
Landesparteitag der Grünen in Nordrhein-Westfalen / Das finanzielle „Irrenzeitalter“ scheint überwunden / Statt Schlammschlacht populäre Kandidatenaufstellung / Stundenlange Debatten über Europa enden als „Materialüberweisung“ an die Bundesdelegiertenkonferenz ■ Von Walter Jakobs
Düsseldorf (taz) - „Die Landespartei ist total marode. Die Kreisverbände liegen im Koma.“ Kaum, daß der ehemalige Vorstandssprecher der nordrhein-westfälischen Grünen, Jürgen Dörman, diesen Satz beendet hatte, demonstrierten die Delegierten lautstark ihre Vitalität. Als dann noch der frühere, von der parteiinternen Untersuchungskommission besonders belastete Landesgeschäftsführer Thomas Hoof die Düsseldorfer Landesgeschäftsstelle der Grünen als ein „Tollhaus“ bezeichnete und die Periode von 1983 bis 1985 gar als das „Irrenzeitalter der Grünen“ einstufte, da drohte seine weitere Rede im wütenden Gebrüll der Delegierten im Aachener Schulzentrum unterzugehen.
Von Koma keine Spur. Schon bei der Debatte und dem chaotischen Abstimmungsmarathon über eine Europa-Erklärung wirkten die Delegierten ganz und gar nicht besinnungslos. Da hatte man neun Stunden lang über Europa diskutiert, eine entsprechende Erklärung mehrmals umgeschrieben und dann Punkt für Punkt verabschiedet, um am Ende das Papier lediglich als „Material“ an die nächste Bundesdelegiertenkonferenz zu überweisen.
Der Ablauf dieser Debatte weckte Erinnerungen an die Serie von Parteitagen vor der letzten Landtagswahl, an das grausame Ringen um eine „landespolitische Erklärung“ (die sogenannte Kindersex-Debatte), mit der das Fundament für den Mißerfolg bei der Wahl gelegt worden war. Jetzt, bei der Europawahl, bestehen dennoch Hoffnungen auf einen besseren Ausgang - vor allem wegen der qualifizierten KandidatInnen. Dabei fällt der bei den Grünen nur „Friwi“ gerufene Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf am meisten aus dem Rahmen. Mit „Friwi“, dem praktizierenden Landwirt und Dr.Phil, verfügt die Partei über eine Person, die bei den Bauern in der Dorfkneipe ebenso anerkannt wird wie in der Expertendiskussion mit den Lobbyisten der Agrarfabriken. Die über 80prozentige Zustimmung für den ostwestfälischen Bauern zeigt, daß die Partei zumindest dies begriffen hat: „Friwi“ ist die halbe Miete.
Die zahlreich erschienenen Journalisten wurden vor allem von der „grünen Buchhaltung“ angelockt. Zwar waren die Zahlen der parteiinternen Untersuchungskommission und der „Treuarbeit“ längst veröffentlicht, aber der Rücktritt des gesamten Landesvorstands versprach eine Schlammschlacht mit genügend Stoff für eine „gute“ Story. Und wieder einmal irrten die Propheten. Michael Vesper, Mitglied der Untersuchungskommission und in Bonn Fraktionsgeschäftsführer, hatte bei der Vorstellung nachhaltig dafür geworben, sich in der Diskussion um eine „vorwärtsweisende Perspektive“ zu bemühen. Eine Diskussion um die Kassenlücken, um Beleg- und Vorschußunwesen bedeute eine „Gratwanderung“, an der „viele Abgründe lauern“. Zwar konnten einige Realos angesichts des Auftrittes des ehemals streng ökosozialistischen Hans Verheyen kaum an sich halten, doch die geballten Fäuste blieben in der Hosentasche. In der Pose des Anklägers hätten die Realos sich auch lächerlich gemacht. Ein Großteil der im fraglichen Zeitraum Verantwortlichen kam aus ihren Reihen, ebenso wie die meisten der jetzt zurückgetretenen Vorständler. Zwar wird in dem Bericht niemandem persönliche Bereicherung oder gar Unterschlagung vorgeworfen, aber daß einzelne Personen im Finanzbereich versagt haben, ist - außer bei den Betroffenen - unumstritten. Doch daß sie „die Hauptverantwortung“ trifft, wie es in dem von Hans Verheyen eingebrachten Papier heißt, hat zwar die überwältigende Mehrheit in Aachen so beschlossen, glauben kann das aber nur jemand, der um die NRW-Grünen bisher immer einen großen Bogen gemacht hat.
Ein wichtiges Signal setzten die Delegierten kurz vor Schluß ihrer Versammlung. Der mit wirtschaftlichen Problemen kämpfende Bauer Maas kann darauf vertrauen, das von den Grünen gegebene „politische Darlehen“ in Höhe von 150.000 Mark „wegen seines vorbildlichen Kampfes“ gegen den Brüter in Kalkar nicht zurückzahlen zu müssen.
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