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Lettischer Sowjet meidet Konflikt mit Moskau

■ Keine Souveränitätserklärung nach estnischem Vorbild im Parlament Lettlands / Hunderttausende demonstrieren im Kaukasus Todesurteil im Moskauer Sumgait-Prozeß war Auslöser / Georgier gegen „Russifizierung“ ihrer Republik

Berlin (afp/ap/taz) - Der Oberste Sowjet der baltischen Republik Lettland hat am Dienstag keine Entscheidung über die von der lettischen Volksfront für die Perestroika verlangte Souveränitätserklärung nach estnischem Vorbild gefordert. Ein führendes Mitglied der Volksfront, Janis Dinewich, sagte am Dienstag abend in Riga, die im Rundfunk übertragene Debatte habe sich im Prinzip überhaupt nicht mit der lettischen Verfassung befaßt. Die Volksfront werde aber reagieren. Der Oberste Sowjet Estlands hatte letzte Woche eine Souveränitätserklärung verabschiedet, die die sowjetische Regierung in Moskau nur für die Außen- und Verteidigungspolitik zuständig erklärt. Nach Berichten aus dem Kaukasus ist es bei Demonstrationen in Aserbeidjan zu Zusammenstößen zwischen Aserbeidjanern und Armeniern gekommen. Wie ein Sprecher der armenischen Nachrichtenagentur 'Armenpress‘ am Mittwoch in Moskau mitteilte, wurden die Auseinandersetzungen durch das Todesurteil vom Freitag im Moskauer Sumgait-Prozeß ausgelöst. In der aserbeidjanischen Stadt Sumgait waren bei einem Pogrom im Februar dieses Jahres nach offiziellen Angaben mehr als 30 Menschen ermordet worden.

Vor allem in der zu gleichen Teilen von Armeniern und Aserbeidjanern bewohnten Stadt Kirowabad sei die Lage gespannt, erklärte der Sprecher. In der aserbeidschanischen Hauptstadt Baku hätten nach telefonischen Angaben eines Reporters des aserbeidjanischen Regionalfernsehens am Mittwoch über 800.000 Menschen gegen den Anschluß der mehrheitlich von Armeniern bewohnten autonomen aserbeidjanischen Provinz Nagorny- Karabach an Armenien demonstriert. Am Vortag hatten schon über 500.000 Aserbeidjaner demonstriert. Und auch in der zweitgrößten Stadt der Republik, Tschutscha, hätte es Demonstrationen und Versammlungen gegeben. Dort befindet sich eine Aluminiumfabrik, die durch die armenische Regierung finanziert und von Armeniern geleitet wird. Die Aserbeidjaner sehen in der armenischen Präsenz in dieser Stadt eine Einmischung und den Versuch, die armenische Präsenz in Aserbeidjan aufrechtzuerhalten.

Unterdessen versammelten sich in der armenischen Hauptstadt am Mittwoch wieder Hunderttausende zu einer Protestdemonstration. Schon am Vortag hatten laut 'Armenpress‘ Zehntausende auf dem Opernplatz demonstriert und die Unterbrechung einer Sitzung des Obersten Sowjets der Republik erzwungen.

In Georgien haben am Dienstag 5.000 Menschen gegen die geplanten Änderungen der sowjetischen Verfassung demonstriert. Trotz massiven Armee- und Polizeiaufgebots seien vor dem Regierungssitz in Tiflis georgische Fahnen geschwenkt und Parolen gegen die „Russifizierung der Republik“ gerufen worden. 62 Mitglieder der Unabhängigkeitsbewegung „Nationale Demokratische Partei“ traten in den Hungerstreik und sandten ein Telegramm an den sowjetischen Partei- und Staatschef Gorbatschow, in dem sie die vollständige Zurücknahme der Verfassungsänderungsentwürfe forderten. Andernfalls würde die Bevölkerung zum „Ungehorsam“ gegenüber den Behörden aufgerufen.

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