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Der Transkaukasus wird zum Pulverfaß

■ Im sowjetischen Transkaukasus hat die mittlerweile an Haß grenzende Entfremdung zwischen Armeniern und Aserbeidjanern gestern erneut zu blutigen Unruhen geführt / Gleichzeitig wurden neue Proteste gegen die von Moskau angestrebte Verfassungsänderung laut

Moskau (afp/dpa/taz) - In der Stadt Kirowabad im Norden der Sowjetrepublik Aserbeidjan hat am Donnerstag nach Angaben des armenischen Schriftstellerverbandes ein antiarmenisches Pogrom begonnen. Die amtliche armenische Nachrichtenagentur 'Armenpress‘ bestätigte, in Armenien stationierte Einsatztruppen des sowjetischen Inneministeriums seien nach Kirowabad entsandt worden. Zusätzlich seien zwanzig Hubschrauber aus Eriwan abgeflogen, um „Frauen und Kinder zu retten“.

Als Folge der antiarmenischen Ausschreitungen strömen Hunderte von Flüchtlingen aus Aserbeidjan nach Armenien. Wie ein Sprecher von 'Armenpress‘ in Eriwan am Donnerstag in einem Telefongespräch mit 'dpa‘ erklärte, trafen in den letzten drei Tagen 1.700 Flüchtlinge aus Kirowabad und anderen aserbeidjanischen Städten in Eriwan ein. In Aserbeidjan häuften sich die Übergriffe gegen „armenische Häuser, Dörfer und Familien“. Es gebe Brandstiftungen und Mordversuche, erklärte der Sprecher.

Die Kundgebungen auf dem zentralen Platz der aserbeidjanischen Hauptstadt Baku würden vom Fernsehen dieser Republik übertragen und hätten nicht nur antiarmenischen, sondern auch antirussischen Charakter. Es würden „sehr aggressive Parolen“ skandiert, wie: „Tod den Armeniern“ und „Russen und Armenier raus aus Aserbeidjan“.

Proteste in Aserbeidjan hatten sich am Mittwoch unter anderem an dem Todesurteil gegen den im Februar am Pogrom von Sumgait beteiligten Aserbeidjaner Achmedow entzündet. Im Verlauf der Ausschreitungen waren dann drei Soldaten der Truppen des Innenministeriums - vermutlich Russen - getötet und über 120 Angehörige beider Volksgruppen verletzt worden.

Nachdem in der Nacht zum Donnerstag in den betroffenen Orten eine Ausgangssperre verhängt worden war, wurde gestern in Kirowabad und Nachitschewan der Ausnahmezustand verhängt. Am Donnerstag früh hatten sich in Armeniens Hauptstadt Eriwan 300.000 Menschen vor dem Sitz des Zentralkomitees eingefunden. Sie forderten die Wiederaufnahme einer Sitzung des armenischen Obersten Sowjets zur Verfassungsfrage, die am Vortag wegen der Unruhen in Aserbeidjan abgebrochen worden war. Vor der Vertagung soll der Moskauer Unterhändler Wolski eine Angliederung der umstrittenen armenischen Enklave Berg-Karabach an die Russische Föderative Sowjetrepublik in Aussicht gestellt haben. Das Gebiet gehört jetzt zu Aserbeidjan.

Indessen gingen in Baku am Donnerstag morgen mehr als 800.000 Menschen auf die Straße. Ein Fernsehjournalist berichtete nach Moskau, praktisch alle in der Stadt lebenden Aserbeidjaner hätten sich versammelt.

Der Oberste Sowjet der bisher von Unruhen nicht berührten Nachbarrepublik Georgien hat am Mittwoch die Schaffung einer völlig neuen Verfassung für die Sowjetunion verlangt. Die Abgeordneten sprachen sich gegen die geplante Abschaffung des Sezessionsrechtes der Sowjetrepubliken aus und gegen einen Paragraphen, der Moskau zur Verhängung des Kriegsrechts in den Republiken ermächtigen soll. In Georgiens Hauptstadt Tiflis hatten während der Parlamentssitzung über 200.000 Personen gegen das Moskauer Verfassungsprojekt demonstriert.

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