piwik no script img

Filmgeschichte als Zauberstunde

■ An zwei nett familiären Abenden gab es im Institut Francais Stummfilme von Georges Melies mit Klavierbegleitung: niedliche Special Effects mit Raketen im Mondgesicht

In der „unmöglichen Entkleidunszene“ versucht ein Mann sich auszuziehen, aber er findet immer neue Kleidungsstücke an seinem Körper, zuletzt ist der Raum voll mit Hüten, Mänteln und Hosen, und der Verzweifelte explodiert. Der „Musiknarr“ reißt sich siebenmal den Kopf ab, um ihn in die obere Hälfte des Bildes zu werfen, wo die Schädel auf Notenlinien eine Melodie ergeben, die sie auch lauthals mitsingen. Auf der „Reise zum Mond“ landet das Raumschiff genau im Auge des Mondgesichtes, im Saturn ist ein Fenster, aus dem ein bärtiger Himmelsbewohner lehnt, der den würdigen Astronauten mit der Faust droht.

Marie-Georges-Jean Melies hatte als Zauberer gearbeitet, bevor er die ersten Filmvorführungen der Brüder Lumiere sah und ihm die Idee kam, daß man mit diesen Apperaten erheblich eindrucksvoller zaubern könnte. In vielen der über zwanzig an diesen zwei Abenden gezeigten Filme mit Titeln wie „Die Phantastischen Illusionen“,„Das magische Buch“ oder „Der Fakir von Singapur“ steht er auf der Bühne wie ein Magier, der Menschen herzaubert und blitzschnell verwandelt, Gerippe tanzen oder Möbel laufen und fliegen läßt. Er erfindet für seine „Lebenden Bilder“ die Techniken des Trickfilms: „Stop Motion“ und Mehrfachbelichtungen, von denen die heute genutzten Special Effects letztlich nur Weiterentwicklungen sind. Melies zeigte sogar schon farbige Filme, für die jedes ein

zelne Bild mit der Hand angemalt werden mußte.

Aber auch die Grenzen seiner Kunst sind in den Beispielen genau zu sehen. Obwohl er in der Wahl seiner Stoffe mit Melodramen, nachgestellte Nachrichtenfilme, politischen und historischen Inhalten und sogar den ersten Werbefilmen sehr vielseitig war, blieb Melies der Konvention der Bühne verhaftet. Die Kamera filmte nur, was in den Pappkulissen passierte - Montage, Nahaufnahmen und die bewegliche Kamera machten andere Filme möglich und überholten ihn, so daß Melies nach 1912 verarmte und zuletzt einen Bonbonladen in Montparnasse führte. „Und dort bin ich bei meinem Großvater aufgewachsen bis er starb, als ich fünf Jahre alt war.“ Das erzählte Madeleine Malthete-Melies während ihrer sehr angenehmen und informativen Einführungen, und plötzlich wird einem bewußt, wie jung die Filmkunst noch ist, und daß diese Filme das Leben der liebenswürdigen französische Dame mittleren Alters dort in der ersten Reihe entscheidend beeinflußt haben. Seit vierzig Jahren sammelt, restauriert und zeigt Frau Malthete-Melies die Werke ihres Großvaters, von den über fünfhundert Produktionen hat sie bis jetzt um die hundertfünfzig gefunden.

Bei den Vorführungen der Filme in Cafes und Bars waren damals drei Mitarbeiter nötig: der Vorführer an der Armkurbel, der Pianist und ein Moderator, der die einzelnen Szenen erklärte. Und

diesmal war es kaum anders. Der Projektionist saß zwar nicht mit seiner knatternden Maschine mitten im Raum aber Frau Malthete Melies kommentierte auch, während die Filme liefen, und am Piano improvisierte Eric LeGuen manchmal verblüffend synchron zu den Bildern auf der Leinwand. Es herrschte eine angenehme, fast familiäre Athmosphäre im kleinen Saal des Institut Francais, mit viel Gelächter, Ohs und Ahs und Beifall für jeden einzelnen Streifen. Vielleicht war es nicht viel anders vor 80 Jahren, als die Filme sicher auch irgendwo in Bremen gezeigt wurden. Nur die Zeitungen haben nichts darüber berichtet, denn die lebendige Bilder waren fürs Volk und wurden im Feuilleton nicht beachtet. So bekommt Herr Melies wohl erst jetzt seine erste gute Presse in Bremen.

Wilfried Hippen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen