: Unruhen im Transkaukasus halten an
■ Versammlungsverbot und Streiks in Eriwan / Massenkundgebungen in Baku / Nach Georgien hat nun auch Armenien die geplante Verfassungsveränderung abgelehnt / Moskau kündigt in der Nationalitätenfrage Kompromißbereitschaft und „Zugeständnisse“ an
Moskau (dpa/ap) - In Baku, der Hauptstadt der Sowjetrepublik Aserbeidjan, sind am Freitag vormittag erneut Hunderttausende zu anti-armenischen Kundgebungen auf die Straße gegangen. Sie versammelten sich auf dem Lenin-Platz in der Stadtmitte, viele legten ihre Arbeit nieder. Aus Kirowabad im Norden Aserbeidjans waren gestern zunächst keine neuen Informationen zu erhalten. Dort hatten am Mittwoch und Donnerstag aufgebrachte Aserbeidjaner ein Pogrom gegen die armenische Minderheit verübt. Bei den blutigen Auseinandersetzungen kamen drei Menschen ums Leben, 126 wurden nach offiziellen Angaben verletzt. In der aserbeidjanischen Stadt Nachitschewan mußten 500 armenische Frauen und Kinder mit Hubschraubern und Lastwagen evakuiert werden, um sie vor den aufgebrachten Massen zu schützen. Kurz darauf hatte sich in Kirowabad ein Komitee zur Evakuierung bedrohter Armenier konstituiert. Bereits seit Anfang der Woche bereits war es zu Plünderungen, Brandlegungen und Vergewaltigungen gegen Armenier gekommen, meldete 'Armenpress‘. Ein Zug Richtung Armenien wurde von Aserbeidjanern angehalten und demoliert. Während in Baku gestern die Wellen hochschlugen, blieb die Lage in der armenischen Hauptstadt Eriwan ruhig, aber gespannt. Wie zuvor in Baku, war hier am Donnerstag abend eine nächtliche Ausgangssperre und ein Versammlungsverbot verhängt worden. Um dagegen zu demonstrieren, standen gestern in Eriwan die meisten Betriebe still. Nach Angaben eines Sprechers des armenischen Außenministeriums funktionierten auch die Verkehrsbetriebe nicht. Schulen und Geschäfte waren jedoch geöffnet. Über der Stadt kreisten Hubschrauber, Panzer, und Schützenpanzerwagen riegelten zentrale Plätze ab.
Unter dem Druck der Konflikte, sowohl in den transkaukasischen als auch in den baltischen Sowjetrepubliken, hat Moskau gestern in der Nationalitätenfrage Kompromißbereitschaft angekündigt. TASS -Berichten zufolge soll das Politbüro bei der umstrittenen Verfassungsänderung zu Zugeständnissen bereit sein. Die geplante Verfassungsänderung würde den einzelnen Republiken Kompetenzen nehmen. Die aus der Bevölkerung kommenden Vorschläge machten es möglich, die Vorlage „wesentlich zu verbessern“, hieß es in Moskau. Geplant ist mit der Reform, das Sezessionsrecht der Republiken abzuschaffen, sowie ein Gesetz, das Moskau zur Verhängung des Kriegsrechts in den Republiken ermächtigen würde.
Vor allem in den baltischen Republiken hatte sich in breiter Front Widerstand gegen die geplante Verfassungsänderung formiert. In der Nacht zum Freitag hat auch Armenien den in Moskau vorliegenden Entwurf zur Verfassungsänderung „in dieser Form“ abgelehnt. Der oberste Sowjet Armeniens war mit Verspätung wieder zusammengetreten, nachdem die Sitzung am Dienstag wegen der Unruhen in Aserbeidjan abgebrochen worden war. Er forderte die Bildung einer Kommission, in der alle Nationalitäten gleichberechtigt vertreten sein sollten. Diese solle eine völlig neue Verfassung für die UdSSR ausarbeiten. Diese Forderung hatte einen Tag zuvor bereits der Oberste Sowjet von Georgien verabschiedet. In der selben Nacht wurde im Obersten Sowjet in Eriwan beschlossen, bei der Forderung nach Angliederung von Berg-Karabach an Armenien zu bleiben. Damit stehen sich Aserbeidjaner und Armenien in dieser Forderung immer noch unversöhnlich gegenüber. In Baku wurde nämlich gleichzeitig verlangt, den autonomen Status von Berg -Karabach wieder aufzuheben und die Region wieder Aserbeidjan anzugliedern. Ferner wurde in Eriwan beschlossen, die anti-armenischen Ausschreitungen im aserbeidjanischen Sumgait Anfang des Jahres als Völkermord zu bezeichnen. Scharfer Protest wurde gegen die Berichterstattung der sowjetischen Presse erhoben. Sie sei „anti-armenisch“ und habe zur „Aufhetzung der Völker“ beigetragen. In den Abendnachrichten von Donnerstag hatte 'TASS‘ die sich zuspitzende Lage zwischen Armeniern und Aserbeidjanern als „Werk verantwortungsloser nationalistischer Elemente“ bezeichnet.
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